37. Das hermetische Sehen

Aber was bedeutet es, wenn das Gedicht tanzt?

Die besondere Qualität eines solchen Gedichts – oder seine Dunkelheit, wie manche sagen – läge nicht im Transport bestimmter, mal schwerer mal leichter verständlicher Informationen; vielleicht bestünde sie gerade darin, dass es darin keinen manifesten Sinn gibt.
Stattdessen ermöglichte das Gedicht eine Emphase, die Bedeutung erst generiert – nicht aus den Wörtern, sondern durch die Wörter.

Nichts anderes scheint die „Schöpfung aus dem Nichts“ zu meinen, von der Ekelöf gesprochen hat. Überträgt man diesen ursprünglich religiösen Gedanken verallgemeinernd auf die Poesie, läge deren emphatisches Wissen im Austausch mit einem Numinosen, dessen Zeichen Gedicht und Leser zu gleichen Teilen wären. So einfach könnte es tatsächlich sein: das Gedicht, vom Verdikt seiner Verständlichkeit oder Unverständlichkeit befreit, würde so offen für die Kommunikation mit seinem Leser. Erst diese auf Augenhöhe stattfindende Begegnung garantierte dann, dass sie beide wechselweise Wirkung entfalten können.

In Xoanon ist die Schwelle zwischen dem Verstehen und seinem Gegenteil mit dem Wechsel vom Du zur unbestimmten dritten Person möglicherweise schon überschritten. Man befindet sich dann in einem liminalen Raum, dessen Konturen und Formen ineinander übergehen und kommt, mit Ekelöf gesprochen, „zu jenem vibrierenden Nichts, das zwischen Menschen ist, von welchem Geschlecht, Stand, welcher Rasse, welchem Vorurteil, Glauben sie auch sein mögen.“ / Norbert Lange, aus seiner Interpretation von Gunnar Ekelöfs Gedicht „Xoanon“, Münchner Anthologie

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