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Vielleicht haben sie eine dunkle Erinnerung an das Prinzip der Differenzialität aus dem Grundstudium (de Saussure und so). Vielleicht fällt ihnen einfach nichts ein, um ihren Gegenstand zu loben; und so bauen sie einen Popanz auf und verglichen mit dem strahlt ihr Objekt. Nicht nur schlechte Rezensenten machen es so, manchmal auch gute, und sogar manche wissenschaftlichen Arbeiten sind nicht frei davon. Man suche zwei Antipoden A und B, die gegensätzlichen Lagern oder Prinzipien zugerechnet werden, und Arbeiten, die mit A oder B sympathisieren, man wird leicht fündig.
Wieviel mehr Gewicht gewinnt diese Kontrastmethode bei schlechten Rezensenten oder Besprechern, besonders wenn sie Lyrik „besprechen“. Einer hebt so an:
N.N. schreibt – das vorweg – Gedichte, die sich sehr zu lesen lohnen. Darüber freut sich der Renzensent natürlich sehr. Immerhin wird man als Lyrik-Besprecher bzw. -Beschreiber mit einer Menge Bücher eingedeckt, wo exakt das Gegenteil der Fall ist. Stets aufs Neue wundere ich mich, was Menschen sich teilweise zusammendichten und was dann auch noch einen Verlag findet. Wen wollen all diese selbsternannten Dichter beeindrucken? Ihre Deutschlehrer? Ihre Väter, von wegen, „Papa, ich kann jetzt schwere Worte“? Durchgeknallte Kritiker mit der Lizenz zum kongenialen sprachlichen Stuss verzapfen? Möge der Mantel des Verschweigens all diese Wirr-Werke für immer zudecken und möge 2014 mehr Verständliches bringen. Bei N.N. liegt der Fall, wie schon erwähnt, anders – und es ist sehr erfreulich, dass hier jemand an die Öffentlichkeit tritt, der etwas zu sagen bzw. zu schreiben hat.
Das ist kein erfundenes Beispiel und keine Karikatur, sondern eine tatsächlich vor kurzem veröffentlichte Notiz zum ersten Gedichtband eines jungen Lyrikers, bei der ich nur den Namen des Autors durch N.N. ersetzt habe. Das Zitat bildet schon mehr als die Hälfte der ganzen Besprechung bei einem öffentlich-rechtlichen Sender. Daß es sich um eine schlechte Kritik handelt, läßt sich beweisen. Die von mir zitierte größere Hälfte enthält weder Argumente noch Beweise, sondern nur Behauptungen, eigentlich nur die eine, daß dieses Buch besser ist als die meisten anderen. Der Großteil des Texts gibt die Gefühle und Überlegungen des Besprechers wider, der von den vielen Büchern erschlagen – in meiner Sicht, ich sags frei heraus: überfordert ist und nun anscheinend eins der seltenen guten oder verständlichen Bücher gefunden hat. Aber was für ein Bild von den Lesern oder Zuhörern haben Schreiber und Sender, wenn sie eine starke Behauptung senden ohne auch nur den Ansatz eines Beweises? Ich kenne mich aus und sags euch? Unser Sender ist das Beste am Westen und ihr könnt uns vertrauen?
Das wird im restlichen Teil der Besprechung nicht anders. Ich rücke auch ihn komplett ein:
Herr N. schreibt nämlich Gedichte, die in ihrem sprachlichen Ausdruck bestechen, die einleuchtende Bilder transportieren und schlüssige Metaphern, und die Inhalte wiedergeben, die nachvollziehbar sind und durchaus auch etwas über die Person verraten, die sie verfasst hat. Es ist eine sensible Poetik, die sich sehr mit der eigenen Existenz beschäftigt und all ihren möglichen finsteren und verlorenen Zuständen. Gedichte über die „kalte spur der stille“, über den „hauch von unbekannt verzogen“ und über das „verlangen nach den leeren räumen“. Großartige junge Dichtung – den Namen dieses Autors sollte man sich merken.
Zu der Hauptbehauptung kommen hier Nebenbehauptungen: bestechender „sprachlicher Ausdruck“, nachvollziehbare „Inhalte“, „sensible Poetik“. Sehen wir von der fragwürdigen Ästhetik dahinter ab – der Besprecher hat gewiß studiert und Differenzierteres über „Inhalt“ und „Form“, Ausdruck, Darstellung oder Struktur gehört. Es folgen in einem Satz drei Zitate ohne Bezug zu einer erkennbaren Argumentation. Das ist großartige junge Dichtung, weil ich es euch sage, so die einzige Aussage. Das alles ist dünn und fragwürdig, aber am schlimmsten ist der Appell an niedere Instinkte als uninformiert und manipulierbar gedachter Leser. Schenkelklatschender Beifall, zustimmendes Gegröle – so sehen Verfasser und Sender solcher „Rezension“ genannter Texte ihre Zuhörer / Leser. Die schlimmste Stelle dieses an schlimmen Stellen reichen Textes sei noch einmal zitiert:
Möge der Mantel des Verschweigens all diese Wirr-Werke für immer zudecken und möge 2014 mehr Verständliches bringen.
So weit so schlecht. – Woher nimmt der Besprecher die Autorität seines Urteils? Nun, das ist einfach. Der besprochene Autor hat einen bedeutenden Preis gewonnen und wurde aus berufeneren Mündern als dem des Radiobesprechers gelobt. Ein halbes Jahr früher schrieb ein renommierter Kritiker in einer Berliner Tageszeitung über dasselbe Buch. Seine Rezension scheint die Quelle dieser Besprecheraussage:
Es ist eine sensible Poetik, die sich sehr mit der eigenen Existenz beschäftigt und all ihren möglichen finsteren und verlorenen Zuständen.
Der berufene Kritiker, einer der bedeutendsten, einer aus der sehr kleinen Schar der professionellen Lyrikkritiker des Landes, drückt das differenzierter aus:
N.N.s Gedichtband „XY“ erzählt von der permanenten Abwesenheit des Subjekts, von seiner Sehnsucht nach Existenzzuständen, in denen das Ich in einen „anderen Zustand“ gelangt und – so formuliert es der Autor in einer Notiz – endlich in der „untersten vulkanischen Tiefe der Existenz“ ankommt.
Der schlechte Kritiker verfährt nach bewährtem Rezept, indem er mehrfach überregional belobte Dichter auch lobt und alle andern pauschal abwertet. Die beiden Rezensionen haben nichts gemein, außer daß sie sich auf den gleichen Band beziehen (und der zweite sich am ersten orientiert). Der gute Kritiker arbeitet professionell, er ist belesen und versteht sein Handwerk – natürlich. Er beschreibt den Platz des lyrischen Subjekts unter Bezug auf Kategorien und Textstellen, das Verhältnis von Narration und Monolog, und wenn er ihn bemerkenswert nennt, hat er im Detail gezeigt, was damit gemeint ist. Man muß nicht seiner Meinung sein – gerade weil er nachvollziehbare Argumente anbringt, kann der Leser zustimmen oder dagegenhalten.
Aber es gibt noch eine Gemeinsamkeit mit dem Text des schlechten Kritikers. Auch in seiner detaillierten Kritik wird die Denk- bzw. Darstellungsfigur der Differenzqualität genutzt.
Der 1980 im nordrhein-westfälischen Meerbusch geborene und heute in der Schweiz lebende N.N. ist eine Ausnahmegestalt unter den jüngeren Lyrikern, die meist eine sprachexperimentelle Neuausrichtung ihrer Gattung anstreben. N. dagegen bekennt sich zu einer Poesie der „Dringlichkeit“, die primär die unsichere Kontur und Selbstwahrnehmung des Ich in den Blick nimmt, seinen Standort in der Verborgenheit „abseits der Dinge“.
Doch ist das Gleiche auch hier nicht Dasselbe. Dieser Kritiker behauptet nicht die Singularität des besprochenen Buches, sondern legt Argumente vor und gibt eine Lesart in Bezug auf verschiedene Gedichttypen. Kritiker A informiert und macht den Leser zum Mitarbeiter, Kritiker B disqualifiziert nicht nur die graue Masse der „Wirrlyriker“, sondern durch die unqualifizierte Art seines Lobes auch den Gelobten. A spricht zu mündigen Lesern, B zum Bauchgefühl der Uninformierten. Kritik B ist ein (öffentlich-rechtliches) Ärgernis. Würde ein so wenig kundiger Kritiker eine Opernaufführung in Bayreuth, Düsseldorf oder München abwatschen, hätte die Redaktion das akzeptiert? Es wäre ein Skandal. Und bei der Lyrik? Stört es vielleicht weniger, weil jeder, der die Bände der neuen Lyrik nicht liest, schon mal davon gehört hat, daß die Lyrik heutzutage unverständlich und schlecht ist? In einer gestern intern geführten Debatte sagte eine Autorin: „Unqualifizierte Rezensionen sind eine Zumutung und respektlos, so einfach ist das.“ So einfach ist das wirklich.
Nachschlag
Vielleicht ist alles auch noch einfacher. Vielleicht hat der Radiokritiker bloß einen anderen Auftrag. Er war nämlich gestern schon Gegenstand einer L&Poe-Nachricht und einer intern bleibenden Debatte. Matthias Ehlers, so heißt der Autor des Radiosenders WDR 5, lobte dort Peggy Neidels und hier, ein paar Wochen früher, Levin Westermanns erstes Buch. (Bibliographische Angaben und Links unten).
Beide von ihm Gelobten sind jung, beide sind Nordrhein-Westfalen*. Sonst nichts. Will sagen, der Sender erfüllt eben einfach seinen kulturpolitischen Auftrag, Leute von uns hervorzuheben. Im Südwesten oder Nordosten die Partnersender haben dementsprechend andere Hierarchien und heben die südwestlichen und nordöstlichen Dichter hoch. Die Kabelbetreiber haben ja sowieso die Verbreitung der Dritten weitgehend eingeschränkt; vielleicht sollte man das radikalisieren, um weitere Mißverständnisse und weiteres Wutvergießen zu vermeiden?
* die geborene Zwickauerin Peggy Neidel studierte in Düsseldorf, war Literaturclub-Mitgründerin in Düsseldorf, jetzt Berlin
Zusatz
Daß der WDR Gedichte junger und alter Dichter sendet, ist höchst löblich. Warum trauen sie sich nicht, sie kommentarlos zu senden?
Literaturhinweise
„Warum trauen sie sich nicht, sie kommentarlos zu senden?“
Aber das tun sie doch! So gibt es beispielsweise auf WDR3 jeden Morgen einen „Text des Tages“ — da ist von Gryphius bis Gernhard alles dabei.
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danke für die infos! allerdings kann ich harald hartung nicht mehr ernst nehmen.
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o es gibt viel kritik jeder spielart, differenziert bis pauschal. zu westermann: michael braun (der auch kräftig verreißen kann) lobt ihn, cornils kritisiert. l&poe zitierte daraus hier: https://lyrikzeitung.com/2013/01/15/51-kritik/
auf verrisse an „junglyrik“ kapriziert sich der faz-kritiker harald hartung zb.
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ich kann die kritik an den zitierten beispielen gut verstehen. auch die scheinbar generelle unzufriedenheit der lyriker mit den lyrikbesprechungen, weil sie meist in die „verstehen oder nicht verstehen“-kerbe schlagen. das ist natürlich ein ausdruck mangelnden interesses bzw. mangelnder auseinandersetzung mit dem text/buch.
ich frage mich aber, ob diese misslungenen lobe nicht auch etwas mit der konsenssoße des wohlwollenden rezensierens zu tun haben. dieser habitus wurde in „63. Rez.“ angedeutet mit “du weißt schon, junge Lyrik” – das ist ja so eine sparte, der man nicht schaden will, also scheint das lob meist schon von vorn herein festzustehen. und das kann natürlich nur katastrophal enden. bemerkenswert ist doch, dass in den wohlwollenden besprechungen immer wieder vom „unverständlichen rest“ zu lesen ist, es aber keine wirklichen verisse von junglyrikbänden gibt. zumindest ist mir keiner bekannt. ich lasse mich gern eines besseren belehren!
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Zwei Beispiele für solche Verrisse stammen aus der Edelfeder von Harald Hartung und galten Mara Genschel und Leonce Lupette. Beide in der FAZ veröffentlicht. Ich will Sie indes nur informieren, nicht belehren. Nicht zu unterschätzen ist die von Narzissmus, Neid und Aufmerksamkeitsgeilheit getriebene Schmähkritik unter Kollegen. Da sollen die Reihen gelichtet werden. Von wegen: es würde zu viel veröffentlicht und ähnliche Konkurrenzprosa.
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Aus der Verwendung des Dumm-Kompositums „Wirr-Worte“ schließe ich außerdem, dass der Rezensent eine Karriere bei der Bildzeitung anstrebt. Er übt halt schon mal. (s. http://translationspotting.blogspot.de/2011/09/kommen-jetzt-die-dumm-worter.html)
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Man darf nie die Angst vor dem Leser verlieren. Es gibt ihn.
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