122. Mehr Gelassenheit

Selbst wenn ich Technologiekritik gemeinhin hoch schätze, vermag ich weder das Problem noch den Pessimismus Kurt Drawerts nachzuvollziehen. Jedenfalls, solange unsere Kultur noch so etwas wie die Lyrikreihe des Hochroth-Verlags hervorbringt und ich die Option habe, meine Abendlyrik in einem stillen Zimmer vom Papier abzulesen. Ich wüsste nicht, welcher Techniker mir das nehmen wollte. Und daher bleibt mir die ganze Aufregung fremd – in einer unangenehmen Weise. / Ben Kaden, Libreas

Vgl. L&Poe 119  hier

12 Comments on “122. Mehr Gelassenheit

  1. Dadurch muss man das Ganze freilich anders sehen und auch anders einordnen. Man weiß bisher dabei nicht, inwiefern der Artikel als solcher ein abgeschlossenes Stück ist, es entstammt allerdings in jedem Fall einem größeren Kontext und wirkt auch – weil es ja ganz offensichtlich Debatten befördert – verlagspolitisch so gesetzt; und da geht es mir so, dass mir da unversehens das Marketingdenken (was auch sonst?), oder auch das medientechnische Lancieren von Aufmerksamkeit, in den Rücken fällt …

    Like

  2. zur Vertiefung der Thematik könnte vielleicht die Lektüre von David Gelernters Aufsatz „Die Zeit der Wegwerfwörter. Von der Zukunft des Lesens“ in Sinn und Form, Viertes Heft 2012 beitragen, es geht dort dezidiert auf die Wahrnehmung digitalisierter Texte im Internet und die weitreichenden Veränderungen in Lese- und Schreibpraxis ein.

    Like

  3. Ich glaube, jetzt weiß ich, was mich an der Diskussion von Anfang an gestört hat: dass man vor lauter Internet oder Nicht-Internet einfach gar nicht zum Punkt kommt, dass Drawerts Statement – wenigstens für mich – auch ein großes Plädoyer für Freiheit ist – oder sagen wir besser, für Unabhängigkeit: mir sprach das beim ersten Lesen ganz aus der Seele. Auch wenn ich sehr schnell begriffen habe, dass es manchen damit offenbar ganz anders geht. Ich stimmte spontan nahezu allem zu und will das jetzt nachträglich nicht leugnen, weil jetzt und hier der Wind im Großen und Ganzen von woanders her weht. Und mir nun Dinge ins Gesicht wehen, die ich erst mal gar nicht gesehen habe. Ich sehe sie jetzt.

    Ich für meinen Teil fühle mich hier und heute in wenigen Dingen freier als je zuvor, auch dank Internet, in vielen aber unfreier. Und ich kann es gar nicht genau sagen, was es im Speziellen ist: ob es an der „Beschleunigungsgesellschaft“ (Ben Kaden via E-Mail) liegt, an meinem persönlichen Zeitmanagement im Umgang mit Kommunikationsmitteln und -formen oder ob es das permanente Wissen ist, dass jedes Posting, das ich im Internet hinterlasse, auf ewig gespeichert und marketingmäßig ausgewertet wird, dass ich alles sagen und ruckzuck kommunizieren kann, dass aber auch und gerade jeder spontane und unbedachte Verschreiber riesenhafte Kreise zieht und überhaupt eins aktueller ist als das andere und das meiste immer gleich derart aktuell ist, dass es hier und jetzt erledigt sein will? Ich habe mich anno 2000 komplett aus der (Literatur-) Forenwelt zurückgezogen, hauptsächlich, weil mich das permanente Trolling und das flüchtige Überlesen von durchdachten Statements einfach total genervt haben, das teils systematische Zerschießen und Zerschnippeln von Argumenten ist dabei für mich der Super-Gau gewesen. Seitdem lasse ich mich in Weblogs kaum noch blicken. Aus meiner Sicht ist das einfach sehr ambivalentes Gebiet. Das ist mein gutes Recht und der Artikel Drawerts beschreibt (für mich) ein wenig, woran es liegt. Gleichzeitig würde ich mich aber niemals dagegen verwehren, dass man nicht auch komplett andere Erfahrungen machen kann. Das muss immer klar sein.

    Ungünstig ist in jedem Fall, dass der NZZ-Artikel in einer Weise zu polarisieren scheint, die mir anfangs nicht bewusst war, zudem ja eben, wie Bertram Reinecke schreibt, sich das Ganze via hermeneutischer Imprägnierung auch noch unangreifbar macht; das ist bedenklich. Und dennoch mochte und mag ich an dem Text Nuancen, die ich in dieser kompakten Form vorher nicht gelesen habe. Der Artikel hat für mich ganz unterschiedliche Anteile; er ist subjektiv, engagiert, kritisch, präzise, analytisch, bringt so manches kompakt auf den Punkt und ist stellenweise auch sehr humorvoll, ein paar Mal ironisch bis satirisch, und ja, man kann darin auch Vorwurfvolles oder Autoritäres sehen, aber ich meine, er ist keineswegs durchgängig ironisch und schon gar nicht distanziert. Genau das ist er nicht.

    Like

  4. Ich denke schon, dass die Polarität die ich andeutete dem Text zu Grunde liegt, auch das autoritäre. Wenn ich dafür argumentierte, dann müsste ich natürlich einen Ausschnitt aus Drawerts Text bringen. Also verbietet er indirerekt zumindest in Deiner Lesart das Argumentieren an sich. Deswegen war der Angriff auf die Logik den manche Hermeutiker fuhren, ja so enorm erfolgreich in der Diskurswelt der deutschen Philosophie, weil sie sich ja mit etwas Geschick gegen jedes denkbare Argument imprägnieren konnten, ganz ohne Internet. Ich kann Dir ja jetzt nicht empfehlen, Dir die Allaussagen einzeln mal anzusehen, da setzt Du mich gleich ins Unrecht. Nie erweitert das Internet den Geist, immer macht das Internet unaufmerksam. Ich Ich bin also ein betrogener, wenn ich das anders empfinde. Für mich ist die Potenzierung der Fragmentierung durch die Maschine kein Skandal. Drwawert meint: Ich bin kein Dichter. Liest Du das alles ironisch? Vielleicht ist ja die allgemeine ironische Distanziertheit eine neue Internetkrankheit 🙂 Ich kann auch geschmacklos argumentieren. Gelassene Grüße

    Like

  5. Zunächst: Gelassenheit ist eine Interpretation des Lesers und zudem eine Zuschreibung emotionaler oder psychologischer Art. Ich für meinen Teil war zu keinem Zeitpunkt „un“gelassen oder unaufgeregt und ich denke auch, Drawert war es nie. Man liest recht gerne zwischen die Zeilen etwas hinein, auch mir geht es so. So hätte ich Ben Kadens erste Replik auf Drawert nie als „kleine Glosse“ verstanden. Grund dafür waren psychologisierende Termini wir „finster“, „trist“ usw. Ich halte derlei Zuschreibungen in sachlichen Texten nicht wirklich sinnvoll. Da es erst einmal reine Interpretationen sind, die beim Rezipienten liegen. Und letztendlich kann ich auch bei Drawert keine Neigung zur Dystopie oder eine Affinität zur Apokalypse o.ä. entdecken, dazu ist es zu vielschichtig und auch zu gebrochen. Hin und wieder mag so etwas aufscheinen, aber insgesamt schimmert das alles doch in ganz vielfältigen Farben. Es ist genau, wie Ben Kaden schreibt – wenn wir einmal im Bereich rhetorischer Stil- Und Spielmittel bleiben wollen: einiges ist ernsthaft, 1:1 und so gemeint, wie es dasteht. Vieles darunter aber auch ironisch, vielleicht sogar satirisch, dann habe ich einen augenzwinkernden Tonfall u.v.m. – in summa viel mehr, als es in der Lesart von Ben Kaden rauskam. Genauso passierte es auch mir, dass Ben Kadens kleine Glosse bei mir teils als „böser“ Angriff ankam (was natürlich ebenso psychologisierend ist) und wo ich als jemand, der gerade die Vielschichtigkeit des NZZ-Artikels schätzte, darin im Wesentlichen nur eine Bestätigung der Drawertschen These sah. Es ist schon so: literarische Rezipienten lesen Texte anders, konzentrieren sich hauptsächlich auf Dinge, die womöglich gar nicht im Text stehen, weil das, was inhaltlich bedeutsam ist, bis zum gewissen Grad immer zwischen den Zeilen steht. Lyrik funktioniert ja auf diese Weise, dass die erzeugte Poesie (oder nennen wir es die Poetizität) in den „materiellen“ Zeichen und Buchstaben des Geschriebenen nicht zu finden sein wird. Und so entwirft auch der Drawert-Artikel eine Gesamtthese, die gar nirgends wortwörtlich steht und spannt somit einen großen semantischen Bogen, der einfach verlorengeht, wenn der Text in Fragmente zersplittert und rekontextualisiert wird. Zumal er selbst ja auch das Thema der (historischen) Rekontextualisierung oder vielmehr der Entkontextierung thematisiert. 😉

    Ein paar Punkte möchte ich noch nachschieben, weil sie mich einfach lange beschäftigt haben. Auf die Art und Weise, wie Ben Kaden beim Begriff „das“ Internet eine Begriffsverwässerung sieht, obwohl es vulgo inzwischen viel, viel mehr als eine rein infrastrukturelle Datenautobahn – nennen wir es World Wide Web, nennen wir es die Gesamtheit aller virtuellen Vorgänge, die möglich sind durch das weltweite Vernetzen der Computer oder nennen wir es die universale Kommunikationsmaschine: das was eben derzeit aus der Infrastruktur „Datenautobahn“ gemacht wird – hat Drawert (das hörte ich einmal in einem seiner Vorträge) ein gewisses Problem mit dem Terminus Diskurs: mittlerweile ist alles und nichts „Diskurs“. Für ihn geht nur ganz wenig tatsächlich als Diskurs im Montaigneschen Sinne durch, d. h. es gibt auch hier eine vulgo-Begriffsverwässerung. Drawert allerdings nun aufzufordern, er solle sich „diskursethisch“ verhalten und seinen Artikel dem Online-„Diskurs“ zur Verfügung zu stellen, empfände ich sogar als eklatant unethisch, da es sich hier eindeutig um einen Sonderfall handelt. Es ist weniger ein Problem der Ethik als eines der Logik. Sofern dieses kleine Beispiel taugt: angenommen, jemand habe ein Papier über die Funktions- und Arbeitsweise eines Papiershredders verfasst hat, so wäre es völlig unzumutbar und auch „unethisch“, von ihm zu verlangen, er solle sogleich wieder selbiges in diesen einzuspeisen; auf dass dieses Papier da drin mitsamt seinen Erläuterungen kleingehäckselt werde? Im Gegenteil: ich schätzte es sehr, dass der Artikel online bis dato nicht verfügbar war. Denn es zeigte auch die Schere: was nicht online ist, ist medial praktisch nicht vorhanden, obwohl es in vieltausendfacher Ausgabe gedruckt wurde. Der Text ist ja dennoch frei zugänglich und stellt sich dem Diskurs, so oder so. (D.h. die „autoritative[n] Fallhöhe seines Wortes als Dichterwort“ kann m.E. nicht allein an der Onlineverfügbarkeit eines Statements festgemacht werden.) Das wäre ein Form von Provokation gewesen, die bei einem Text wie diesem nur konsequent gewesen wäre und zudem auch als künstlerischer Akt „lesbar“. Und eben auch eine Form des speziellen Drawertschen Humors.

    Und klar: die Wahrheit liegt, wie es immer ist, in der Mitte. Es gibt (wenigstens für mich) keinen holzschnittartigen Diskurs „Online vs. Offline“. Kein reflektierter Mensch ist ganz für „Schwarz“ oder ganz für „Weiß“, nicht in dieser Ausschließlichkeit. Ganz so wie niemand, weder Drawert noch ich, „das“ Internet komplett in den Boden rammen will; davon war auch nie die Rede, es ist eine grandiose Erfindung, da passiert viel, es hat ganz viel auch bislang unausgeschöpftes Potenzial. Und genauso, wie niemand ernsthaft dran glauben wird, dass durch Internet, neue Medien usw. der Untergang der Literatur bevorsteht, ist es dennoch überlegenswert, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn Texte in dieser Form „entrissen“ und beschleunigt multipliziert werden usw.

    Like

    • Eine kleine Bemerkung zum Diskursbegriff. Für mich ist relativ eindeutig, was sich da hinter verbirgt, nämlich die wechselseitige argumentative Verständigung zu einem Thema mit dem Ziel, entweder Wahrheitsansprüche bzw. die Angemessenheit von Normen und Werten zu prüfen oder um ästhetische Erscheinungen zu beurteilen. (Ich bin also fraglos in einer Habermas’schen Richtung unterwegs und gerate daher regelmäßig in erbitterte Diskussionen darüber, ob man nicht lieber Foucault als Leitbild wählen sollte. Mir scheint die Habermas’sche Linie jedoch praktikabler.) Wer öffentlich argumentiert, sich aber einer Wechselseitigkeit bewusst verschließen will, handelt nach meinem Verständnis ein Stück weit autoritär und damit diskursethisch unzulässig.

      Ich frage mich nun, aus welcher Perspektive Kurt Drawerts Aufsatz wirklich zu nehmen ist? Und mit welcher Intention er diesen veröffentlichte, sollte er ihn nicht in einen öffentlichen Diskurs einspeisen wollen? (Was ich ihm gar nicht unterstellen will.) Literatur ist sein Aufsatz jedenfalls für mich nicht.

      Ich glaube ebenso wenig, dass ein Artikel aus einer Zeitung wie der NZZ überhaupt „medial praktisch nicht vorhanden“ sein kann. Er versteckt sich vielleicht ein wenig mehr, ist nur einen Tag am Kiosk erhältlich und eine Woche in der Bibliothek. Er muss aber trotzdem damit rechnen, dass es crossmediale Akteure gibt, die auch Print lesen um dann online darüber zu schreiben.

      Ich denke also, dass jemand, der derart offensiv ein sehr debattentaugliches Thema in die Öffentlichkeit trägt, sich durchaus dazu verpflichtet, hinzunehmen, dass die Debatte entsteht. Sonst geht man nicht in die Öffentlichkeit, sondern verschickt seine Statements im Brief.

      Im Nachgang überraschte mich allerdings etwas anderes, nämlich dass Kurt Drawerts Text offensichtlich nur ein Auszug aus einer Monographie namens Schreiben. Vom Leben der Texte (vgl. http://www.chbeck.de/Drawert-Schreiben/productview.aspx?product=10282804 ) ist. Er erscheint also interessanterweise selbst aus einem Kontext entnommen (um nicht „entrissen“ zu sagen). Ich will ihm nun wirklich nicht unterstellen, dass es mit dem Vorabdruck nur um die Vorbereitung des angekündigten „Toptitels“ (so der Verlag) geht. Meine Einschätzung wäre sicher nicht viel anders ausgefallen, wenn es neben dem Beitrag gestanden hätte. (Es stand meines Wissens nicht dabei.)

      Denn nach wie vor verblasst mir die Vielschichtigkeit des Drawert’schen Textes hinter den schiefen Bildern, garstigen Reizworten und altbekannten Klagen, weil sie eben doch grelle Einsprengsel sind, die mehr das Ressentiment als die ausgeglichene argumentative Abwägung hinter den darin wie auch immer versteckten Thesen vermuten lassen. Ich habe es in meiner ersten Reaktion angedeutet: Die große Schwäche vieler Diskussionen zum Thema Internet und Gesellschaft scheint mir darin zu liegen, dass wir vor allem unsere eigenen Erfahrungen, unsere persönliche Überforderung oder Begeisterung extrapolieren und zu wenig Distanz beim Blick auf das haben, was da um und mit uns geschieht. Insofern hätte ich mir Drawerts Beitrag durchaus wahlweise ironisch raffinierter oder argumentativ distanzierter gewünscht. Bedauerlicherweise hängt er irgendwie dazwischen und erscheint vor allem: sehr aufgeregt.

      Nun addiert sich leider noch der Verdacht, dass die Provokation, die sich in der Positionierung teilweise sehr deutlich zeugt, parallel noch eine andere Rotation fördern wollen könnte. Das mag eine groteske Fehllektüre des Gesamtprozesses sein. Aber es ist doch eine, die in Kauf genommen wird.

      Denn jetzt geht es auf einmal auch um ein Produkt, auf das „der entrissene Text“ ein Verweis (oder auch, Marketing gesprochen, ein „Teaser“) ist. Ich empfinde es generell überhaupt nicht als verwerflich derart zu verfahren, egal ob durch Vermeidung, als Guerilla-Marketing oder offen. So funktioniert der Buchmarkt. Vielleicht sollte die Unterlassung der Angabe des Kontexts gerade dem Eindruck, hier ginge es um das Platzieren einer Neuerscheinung in der öffentlichen Wahrnehmung, vorbeugen. Ich sehe mich an dieser Stelle tatsächlich ein wenig in einer Ambivalenz gefangen. Dieser Zustand demonstriert natürlich wiederum sehr anschaulich, wie sich der Kontext auf die Rezeption auswirkt.

      Die Kenntnis dieser Portionierung, die mir mutmaßlich vorerst nur einen Teil eines größeren Argumentationszusammenhangs zugänglich macht, sorgt allerdings dafür, dass das Roß, von dem Kurt Drawert seine Botschaft verliest – sein spezieller Humor hin oder her – für mich nun noch weniger auf den Parkour passt.

      Schließlich: Das Beispiel des Papiershredders überzeugt mich übrigens keinen Millimeter, denn einen Text zu schreddern bedeutet, ihn zu jeglicher Kommunikabilität zu berauben. Es bliebe einzig die Substanz des Trägermediums.

      Selbst wenn man die hypertextuelle Auflösung von Text in Internetmedien radikal unsympathisch findet, wird man doch zugeben müssen, dass die dort stattfindende Re- und Dekontextualisierung eines Textes immer noch oder gerade als Kommunikation und sinnstiftend wirkt, wenn auch mitunter gegen den Anspruch des Urhebers. Es bleibt immer eine entzifferbare Spur, wogegen die Funktion des Aktenvernichters gerade das Tilgen jeglicher Spur ist. Und wie wir alle wissen, gibt es kein Medium, das das Konzept des Spurenhinterlassens besser veranschaulicht als das WWW.

      Like

      • Dass Kurt Drawert ein Buch mit diversen Essays zum Thema Schreiben vorbereitet, weiß ich. Dass besagter Artikel darin enthalten sein soll, weiß ich nicht. Worauf stützt sich diese These? Ist das eine Vermutung oder gibt es dazu einen handfesten Beleg? Das würde freilich vieles relativieren und auch diesen Text selber anders akzentuieren. Bisher kann man da aber wohl nur spekulieren.
        Die unterschiedlichen Lesarten des Artikels sind nun inzwischen einigermaßen erschöpfend geschildert worden. Es gibt vermutlich so viele Lesarten wie es Leser gibt. Deshalb möchte ich mich dazu nicht weiter äußern.
        Was mir bisher nicht gelungen zu sein scheint: den Aspekt deutlich zu machen, dass der Text ja immer medial vorhanden war, aber eben nicht in virtueller Form. (Inzwischen ist er es, was die anfängliche Annahme auch wieder relativiert.) Es müssen ja noch nicht mal „crossmediale Akteure“ ans Werk gehen; es genügte, wenn ein weiteres Printmedium, ein weiterer Aufsatz, ein weiterer Artikel im Print erscheint, der sich desselben Themas von einer anderen Warte aus annimmt. Die These ist doch einzig und allein die, dass Texte verlieren, wenn sie in die hypertextuelle Medienwelt geraten. Es geht auch nicht darum, dass Re-/Dekontextualisierung per se nicht möglich ist oder sein soll oder dass sich Drawerts Artikel prinzipiell dagegen sperrt. Auch wenn dieser Text eine gewisse Geste oder auch einen Impetus in diese Richtung hat, bezieht sich das immer nur auf entrissene Texte via Internetmedien. Das ist ja eben die Konsequenz, die sich aus Form und Inhalt ergibt: die aber eben just und nur bei diesem Artikel durch die besondere Kongruenz von Form und Inhalt begründet ist. Ich habe durch zwei kleine Beispiele versucht, das etwas anschaulicher zu machen, was mir offenbar bislang nicht wirklich gelungen ist. Ich wollte weder mit dem Bild der Blogdiskussion über die Haltlosigkeit von Blogdiskussionen etwas Spezielles über Blogs aussagen noch wollte ich mit dem Papiershreddervergleich (obgleich es inzwischen wohl Software gibt, die auch je nach Stufe der vernichteten Akten via „Schnipselscan“ diese intelligent zusammenpuzzeln und somit mehr oder weniger schnell wiederherstellen kann) sagen, dass in den Medien des Internets alle Texte bildlich gsesprochen in unlesbaren Streifen zerhäckselt werden; stattdessen habe ich verdeutlichen wollen, wie absurd es wäre, einen Text durch exakt dieselbe Maschine durchzujagen, in dem man diese soeben für unzuverlässig und ungeeignet deklariert hat. Warum sollte man das tun wollen? Wenn es auch andere Möglichkeiten des Dialogs und des Diskurses gibt?

        Like

    • Na immerhin dann online … im Grunde ist es eine Strategie, wie sie Adorrno gegen die statistische Sozialwissenschaft oder mancher Hermeneutiker gegen die Logik fährt. Die gegner werden eher ja nicht argumentativ zur Strecke gebracht, sondern es wird mehr oder minder sublim versucht darauf festzulegen, dass man nur entweder ganz dafür oder ganz dagegen sein kann. Und dann wird eher die Glaubwürdigkeit der Antagonisten bestritten. Die haben irgendwas ganz grundsätzlich nicht gerafft, sind eigentlich nicht ganze Menschen im eigentlichen Sinne.
      Jemandem, der vor den der einen oder anderen Gefahr des Internets warnen möchte, oder Vorschläge macht, wie man sich der einen oder anderen Fehlentwicklung gemeinsam erwehren könnte, erweist Drawert einen Bärendienst, insofern die Polarisation fortwirkt und man dann schnell mit einem verwechselt wird, der wieder den Untergang des Abendlandes gekommen sieht. insofern hat Drawerts Text das Zeug zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung. Nicht immer aber „immer auch“ möchte man ausrufen und zum Positivisten werden oder gar zum „blinden Realisten“ (dem positiv der Seher gegenübersteht?), selbst wenn man vorher mit solcher Art Leut nix am Hut hatte …
      „aber die Potenzierung des Fragmentarischen durch die Maschine ist für einen Dichter von heute nur skandalös“ Ja für einen Dichter nämlich Drawert mag das skandalös sein. der dürfte dann das gleiche über Dichter Endler denken, „eine spielfreudige Dekonstruktionsmaschine, die gar keine Lust darauf hat[te], sich ihre Lebenswirklichkeit derart autoritär erklären zu lassen und praktische Ethik über moralische Stase hebt“, dies angefügt: jemand der nicht Drawerts Meinung ist, ist eben kein Mensch, weil es zum Menschen ja gehört potentiell auch geistiges Wesen sein zu können, potentiell gar Dichter.

      Like

  6. Es gibt mittlerweile eine an- aber wunderbar unaufgeregte E-Mail-Korrespondenz zwischen Armin Steigenberger und mir zu diesem Thema und inzwischen denke ich, dass man dies in dieses Forum übertragen sollte.

    Denn anscheinend kann Kurt Drawerts Text sogar für mich weiter an Tiefe gewinnen, wenn wir über ihn schreiben. Und vielleicht geht es anderen ebenso.

    Bertram Reinecke berührt meines Erachtens sehr genau die Differenz zwischen den in diesem Fall kollidierenden Text- und Rezeptionskulturen, wenn er Armin Steigenberger die Lektüre als Literatur und mir die Lektüre als Diskursbeitrag zuschreibt.

    Nun ist es tatsächlich fast unentscheidbar, wohin solch ein Text wie Kurt Drawerts entrissener gehört, wenn er unter der Rubrik Literatur & Kunst erscheint. Allerdings gilt für mich das Medium Zeitung besonders als eines des öffentlichen Diskurses (eigentlich stellt sich aus meiner Warte jeder, der etwas publiziert, auch der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Werk und zwar in all ihren Niederungen und Hochachtungen). Zudem schlichtet er deutlich erkennbar Argumente auf. Und dies zu einem Thema, das mich selbst schon sehr lang herumtreibt. Wer sich so exponiert, muss mit Reaktionen rechnen. Das weiß ich, das weiß auch Kurt Drawert.

    Selbstverständlich habe ich – nicht ohne Vergnügen – Kurt Drawerts Annahmen in meiner, nun ja, Entgegnung gründlich bestätigt. Im Nachhinein wurde mir versichert, dass auch Kurt Drawert so manches in seinen Aufsatz mit dem ihm eigenen Humor und einem Augenzwinkern eingefügt hatte und möglicherweise war ich zu humorlos, um die entsprechenden Stellen als Jux zu verstehen. (Obschon ich des Öfteren dachte, dass er die eine oder andere Aussage einfach nicht ernst meinen kann und dazu überging, den Text passagenweise – die demütig den Briefträger erwartende Oma ! –als Satire zu lesen. Aber dann wurde er dafür doch wieder zu ernsthaft.)

    Das eigentlich Spannende ist für mich jedoch, wie hier offenbar zwei Kulturen des Schreibens aufeinander treffen und sich gegenseitig spiegeln: Auf der einen Seite der unbedingte Willen um eine Geschlossenheit, vielleicht sogar um ein Werk und mit einem Manifestationsanspruch (ich habe auch ohne Volltextsuche neunmal „immer“ im Text Kurt Drawerts gezählt) und damit meist verbunden der Wunsch nach Werkkontrolle. (Kurt Drawert zählte ja auch zu den Unterzeichnern des etwas sehr schreienden WIR SIND DIE URHEBER!-Aufruf.)´

    Diesem Willen begegnet nun eine spielfreudige Dekonstruktionsmaschine, die gar keine Lust darauf hat, sich ihre Lebenswirklichkeit derart autoritär erklären zu lassen und praktische Ethik über moralische Stase hebt. Wenn hier Werkschöpfung erfolgt, dann nebenbei. (Was allerdings ganz und gar nicht ausschließt, dass man die Urheberschaft der anderen absolut anerkennt.)

    Es verblüfft wohl niemanden, dass diese Ansätze zunächst einmal inkompatibel sind und das Missverständnis zum Bedeutungsleiter wird: Kurt Drawert erreicht – vor allem aufgrund seiner staubigen Metaphern aus dem winterlichen Schlachthof – nicht, dass seine Botschaft von Menschen wie mir anders wahrgenommen wird, als als überzogene Dystopie. Und Kurt Drawert wird aus meiner Reaktion nicht viel mehr als die Bestätigung entnehmen, als vielleicht die kulturelle „Verluderung“ im WWW. („Lustlosigkeit“ lasse ich mir dagegen nicht vorwerfen.)

    Finden wir eine Brücke? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß beispielsweise aus meiner Leidenschaft für das Medium Postkarte ziemlich sicher, dass zwischenmenschliche Kommunikation vermutlich seit Erfindung des Urlaubsgrußes nur sehr selten so stattfand, wie zwischen Franz und Ottla und meist doch irgendwie nicht weit entfernt war von der Schulhof-SMS zwischen – man verzeihe mir das Namensklischee – Sandy und Justin. Nur die Codes haben sich verändert. Der Mangel an Stil, Originalität und orthografischer Präzision dagegen kaum. Ich will damit sagen, dass die beschworenen besseren Zeiten des Damals eben auch vor allem die besseren Zeiten einer bestimmten kulturellen Elite waren. Und die gibt es nach meiner Wahrnehmung in gleicher Weise immer noch. (Ich kann nicht erkennen, dass der Markt für Feinpapiere und hochwertige Schreibgeräte in irgendeiner Form zu verschwinden droht. Und man kann sogar im Medium der Kurznachricht äußerst kafkaeske Botschaften an die Felicen unserer Zeit aussehen – was ich als viel aufregender als die Renaissance des Büttenbriefs empfinde. Dass die leider oft mit dem Endgerät verloren gehen, ist ein noch zu lösendes Problem.)

    Es ist eine Herausforderung, tradierte Inhalte und Ausdrucksformen in neuen Kommunikationsmöglichkeiten und –techniken zu aktualisieren und parallel dazu die neuen Technologien entsprechend zu „kultivieren“, dass auch neuartige nicht-„verluderte“ Kommunikationspraxen entstehen. Dies ist es bisher, wie ein Blick in die Mediengeschichte zeigt, immer irgendwie gelungen und ich verstehe und sehe nicht, weshalb wir ausgerechnet am Digitalen scheitern sollten.

    Like

  7. Ich neige auch eher der Meinung Ben kadens zu, sein Argumentation gegen Armin Staigenberger trifft allerdings nicht den zentralen Punkt. armin Steigenberger liest Drawerts Artikel wie ein Stück Literatur. Da käme es darauf an, den Respekt zu haben, zunächst die Intentionen des Textes mitzuvollziehen und mindestens auf Probe sich zu Eigen zu machen, ehe man urteilt. Von daher ist Punkt a des Gegenargumentes nicht treffend: Denn darum geht es ja: Der Nachfolgende Redner kann sich heute in rasender Geschwindigkeit klug machen, selbst noch frisch ergoogeltes Wissen einspielen unter der Geste, dies und das sei doch längst bekannt. Der Rolle des Schriftstellers, der sich als Sachwalter eines freischwebenden Begehrens versteht, dem er exemplarisch Ausdruck verleiht und dher seine Legitimation bezieht ist das extrem schädlich. Auch ist mir bei Punkt c des Gegenarguments mir nicht klar, was Neutralität bedeutet. Eine Digitale Fläche ist bspw. ja mit Volltextsuche erschließbar, was ein Papiertext nicht ist usw. Insofern kann man Drawert wohlwollend unterstellen, dass er sich einer langsamen Diskussion, die vielleicht seine Position langsam historisch macht (b) tatsächlich bereit wäre zu stellen, einer solchen, die ihm Zeit gibt zu sagen „Das war damals“ und nicht „Offenbar habe ich einige Punkte nicht gesehen“. Das alles sind Spielregeln, die für ein bestimmtes Dichtungsverständnis, wie es er und noch ein paar Andere (mir fällt immer Krolow ein) vertreten oder vertreten haben konstitutiv sind.
    Ben Kaden scheint eher vom Ethos des Wissenschaftlers getragen, für den Respektlosigkeit und Verpflichtung auf Fakten ein Wert darstellt. Da setzt ihn das Netz in Vorteil. Ich glaube allerdings auch gegen Steigenberger, dass ein Dichter der einen Ausflug ins essayistische wagt, sich diesen Maßstäben stellen sollte. Spätestens hier sollte er nicht auf der autoritativen Fallhöhe seines Wortes als Dichterwort bestehen.

    Like

Hinterlasse eine Antwort zu umtriebe Antwort abbrechen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..