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In ihrer Dissertation mit dem Titel «Aber was ist diß?» – der ihr liebsten aller Fragen Hölderlins – , befasste sie sich mit diesem Kunstgriff, den der Dichter in seinen Texten mehrfach verwendet. Die Literaturwissenschaftlerin fand heraus, dass die Fragen mit den Jahren immer weniger rhetorisch gemeint waren und Hölderlin sie in der späten Lyrik vielmehr unvermittelt stellte. Sie sagt dazu: «Er fällt sich selbst ins Wort und stellt sich als Dichter in Frage.» / Frankfurter Neue Presse über die Germanistin Sabine Doering, die zur neuen Präsidentin der Hölderlin-Gesellschaft gewählt wurde
Sabine Doering: Aber was ist diß? Formen und Funktionen der Frage in Hölderlins dichterischem Werk, Göttingen 1992
Friedrich Hölderlin
MNEMOSYNE
Zweite Fassung
Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.
Wenn nemlich über Menschen
Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig
Die Monde gehn, so redet
Das Meer auch und Ströme müssen
Den Pfad sich suchen. Zweifellos
Ist aber Einer. Der
Kann täglich es ändern. Kaum bedarf er
Gesez. Und es tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben
Den Firnen. Denn nicht vermögen
Die Himmlischen alles. Nemlich es reichen
Die Sterblichen eh’ an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo
Mit diesen. Lang ist
Die Zeit, es ereignet sich aber
Das Wahre.
Wie aber liebes? Sonnenschein
Am Boden sehen wir und trokenen Staub
Und tief mit Schatten die Wälder und es blühet
An Dächern der Rauch, bei alter Krone
Der Thürme, friedsam; und es girren
Verloren in der Luft die Lerchen und unter dem Tage waiden
Wohlangeführt die Schaafe des Himmels.
Und Schnee, wie Majenblumen
Das Edelmüthige, wo
Es seie, bedeutend, glänzet mit
Der grünen Wiese
Der Alpen, hälftig, da gieng
Vom Kreuze redend, das
Gesezt ist unterwegs einmal
Gestorbenen, auf der schroffen Straß
Ein Wandersmann mit
Dem andern, aber was ist diß?
Am Feigenbaum ist mein
Achilles mir gestorben,
Und Ajax liegt
An den Grotten, nahe der See,
An Bächen, benachbart dem Skamandros.
Vom Genius kühn ist bei Windessausen, nach
Der heimatlichen Salamis süßer
Gewohnheit, in der Fremd’
Ajax gestorben
Patroklos aber in des Königes Harnisch. Und es starben
Noch andere viel. Mit eigener Hand
Viel traurige, wilden Muths, doch göttlich
Gezwungen, zulezt, die anderen aber
Im Geschike stehend, im Feld. Unwillig nemlich
Sind Himmlische, wenn einer nicht die Seele schonend sich
Zusammengenommen, aber er muß doch; dem
Gleich fehlet die Trauer.
s. auch die unter Nr. 68 vom 13. februar 2010 zitierte [erste] fassung. im kommentar ein hinweis auf carles riba, der einem gedicht die zeilen „Sich wiegen lassen / wie auf schwankem Kahne der See“ voranstellt:
https://lyrikzeitung.wordpress.com/2010/02/13/meine-anthologie-13-friedrich-holderlin-mnemosyne/
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ganz recht, ich mnemosyne mal wieder. Die von mir vor 10 Jahren in meine Anthologie aufgenommene Fassung war übrigens die 3. Fassung nach der Beißner-Ausgabe. Damals war der Doppelband 7/8 der Sattler-Ausgabe (der mit den Gesängen) noch nicht erschienen. Mir geht es jetzt darum, den Unterschied zwischen beiden Ausgaben mal etwas genauer zu erkunden. Soviel weiß ich schon: es ist spannend!
Das Gedicht in jener Fassung habe ich übrigens mal mit Studenten im Chor an der Ostsee gesprochen: auch eine Erfahrung.
vgl.
https://lyrikzeitung.wordpress.com/2010/02/13/meine-anthologie-13-friedrich-holderlin-mnemosyne/
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