Mädchen auf der Flucht

Ashberys Gedichte sind Welten aus Sprache, die vor allem den Prozess der Aneignung von Wirklichkeit reflektieren und nicht ein auf Beobachtung basierendes Bild von ihr liefern wollen. «Dieses Gedicht befasst sich mit Sprache», heisst es in dem hier nicht mit aufgenommenen «Paradoxa und Oxymora». Dies gilt für alle Texte Ashberys, allerdings keineswegs «auf einer sehr einfachen Ebene», im Gegenteil. Ihr Material sind Worte oder Sätze oft unterschiedlichster Herkunft, die sprunghaft und in der Folge des Bewusstseinsstroms aneinander gefügt werden. Ashbery experimentiert zuweilen mit wenigen einzelnen Zeilen, die in immer neuen Kombinationen Bedeutung erzeugen sollen (wie in «Hotel Lautréamont»), oder aber mit klischeehaften Phrasen, die das Verhältnis von Starre und Veränderung ausleuchten (wie in «Mädchen auf der Flucht»).

Jürgen Brôcan, NZZ 14.3.03

John Ashbery: Mädchen auf der Flucht. Ausgewählte Gedichte. Amerikanisch und Deutsch. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Joachim Sartorius. Carl-Hanser-Verlag, München 2002. 168 S., Fr. 31.20.

Vor 200 Jahren starb Klopstock

Länger als bei den Lesern währte die Erinnerung an Klopstock bei späteren Dichtern. Von Goethe und Hölderlin bis zu Bobrowski und Rühmkorf reicht die Reihe der Bewunderer, die von Klopstocks Experimenten mit der Sprache und dem Vers lernten: den Verzicht auf poetische Gewohnheiten wie den Reim und den regelmässigen Wechsel von Hebung und Senkung, die Erfindung neuer Wörter, die harte Fügung von Sätzen, die absichtliche Erschwernis der Lektüre also. «Den ungehörten Wogen entströmt, / Dem gemeinen Quell entrieselt der Tod. / Glittst du auch leicht, wie dies Laub, ach, dorthin, / Sänkest du doch, Jüngling, und stürbst!» Wie könnte man den Rat an Schlittschuhläufer, vor Löchern im Eis auf der Hut zu sein, befremdlicher ausdrücken und bedeutender klingen lassen! / Heinz Schlaffer, NZZ 14.3.03

Literarischer Extremist

Im Rahmen der ausgezeichneten historisch-kritischen Klopstock-Ausgabe ist nun der Kommentarband zur „Gelehrtenrepublik“ erschienen, ein wirkliches Buchmonument an Umfang, Inhalt und Preis. Der Band liefert aus dem Nachlass mehr als 200 unbekannte Seiten von Klopstock, einen beeindruckenden Textapparat, Rezeptionszeugnisse sowie einen äußerst umfangreichen Erläuterungsteil. Darin unterstützt Klaus Hurlebusch auf innovative Weise die modernistische Lesart. Aus den Verfahren der Textproduktion heraus entwickelt er ein Klopstock-Bild, das wenig mit der humanistischen Tradition der Gelehrtenrepubliken zu tun hat, dafür aber viel mit Hölderlin oder Nietzsche, Mallarmé, Valéry oder Heidegger.

Klopstock ist hier nicht der schrullige Sonderling mit Neigung zu esoterischen Formulierungen, sondern ein Experimentator, der sich in der Bewegung des Sprachmaterials selbst erfindet. Fragmentarität, sprachliche Verknappung und Vorläufigkeit werden zu seinen Ausdrucksformen. / Steffen Martus, SZ 14.3.03

FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Band 2: Text und Apparat. Hrsg. von Klaus Hurlebusch. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 2003. 1001 Seiten, 298 Euro.

Über Klopstock siehe auch: Rolf Vollmann, Die Zeit 12.3.03 – – – Die Rheinpfalz vom 14.3.03 – – – Dresdner Neueste Nachrichten 14.3.03 („Kein Kriege kann gerecht sein … Betüncht ihn, gleißt ihn; er wird nicht gerecht!“, schreibt er 1782. Auch das ist Klopstock!)

Leonce-und-Lena-Zeit

In Darmstadt ist wieder Leonce-und-Lena-Zeit:

dort beginnt am 14.3.03 der Lyrikerwettstreit um den Leonce-und-Lena-Preis. Zwei Tage lang werden 19 deutschsprachige Nachwuchsdichter im Kulturzentrum «Centralstation» ihre Werke vortragen. Am Samstagabend wird die Jury den Gewinner des mit 8000 Euro dotierten Preises bestimmen. Außerdem wird ein Förderpreis in Höhe von 8000 Euro vergeben.

Physische Poesie

Mit dem „Lautmaler Lentz“ (nämlich Michael) beschäftigen sich die Aachener Nachrichten. Lentz über seine Vortragswerise:

„Auf der Bühne bewege ich mich im äußersten Grenzbereich von Sprechen und Sprache. Ich liebe es, mich körperlich zu verausgaben, indem ich immer rasanter artikuliere, bis der gesprochene Text außer Kontrolle gerät. Oder ich gehe frei improvisierend durch den Raum. Manchmal stelle ich mich in eine schlecht ausgeleuchtete Ecke der Bühne, so dass ich meinen Text kaum entziffern kann. In solchen Momenten entsteht physische Poesie.“

/ 14.3.03

Das letzte Kapitel

Die Berliner Zeitung vom 14.3.03 druckt und kommentiert Erich Kästners Gedicht „Das letzte Kapitel“, das 1933 die finale Befriedung der Erde für das Jahr 2003 vorhersagt.

Grenzüberschreitungen

Wenn die Poetologien nicht mehr helfen, kommen die Bilder. Zum Beispiel Flimmerbilder, kaum mehr erfassbare Verwirbelungen der Natur-Partikel in einem Kurzfilm des Dichters Oswald Egger. In rasanter Fahrt erfasst hier die Kamera ein undurchdringliches Gewebe aus Hecken, Sträuchern, Zweigen, Gräsern, Blattwerk und Geäst – und es entsteht eine Textur aus selbstähnlichen Mustern und Strukturen.

Dieser Versuch der Visualisierung eines poetischen Verfahrens war einer der interessantesten Beiträge zur Lyrik-Tagung „Grenzüberschreitungen“, zu der sich am Wochenende unterschiedliche lyrische Temperamente auf Schloss Elmau versammelten, dem mittlerweile klassischen Ort für ästhetische und philosophische Provokationen. Man sah, hörte und staunte, wie der Sprachmystiker Egger seinen verwilderten „Alphabet-Garten“ betrat und seine vielschichtig flimmernden Sprach-Stoffe zu immer neuen kryptischen Mustern verknüpfte. Aber man vermochte dem nicht immer zu folgen. / Michael Braun, FR 13.3.03

Renaissance der Experimentellen

Michael Lentz nimmt das Dichten sportlich, mit spielerischer Intelligenz und logischem Scharfsinn. Er probiert vieles von dem aus, was Jean Cocteau seinerzeit schon, umgeben von einer überhitzten Phalanx neoromantischer bis surrealistischer Ausdrucksartisten, den jungen Dichtern zur Abkühlung riet: «verkehrt herum schreiben, die Buchstaben untereinander verbinden, schreiben und das Blatt im Spiegel betrachten, eine geometrische Zeichnung anfertigen, die Worte an die Kreuzpunkte der Linien setzen und die Lücken anschliessend auffüllen, einen berühmten Text umkehren, indem man den Sinn herumdreht . . .» So würde ihr Geist Muskeln ansetzen. Beherzigt haben es wenige, doch immerhin genug, um eine fast hundertjährige Tradition experimenteller Lyrik zu begründen. Gegenwärtig feiert diese Kunstrichtung eine weltweit vernetzte Renaissance, und zwar nicht in klandestinen Poetenzirkeln, sondern auf den grossen Bühnen der Städte, eng verbunden mit der jungen Musikszene. «Aller Ding» ist ein temperamentvolles Kompendium experimenteller Lyrik des 20. Jahrhunderts. Michael Lentz erfindet nichts Neues, aber seine lyrischen Muskelspiele boxen Auswege frei aus der ewigen Aporie zwischen konventioneller Poesie und Avantgarde.

Beatrix Langner, NZZ 13.3.03

Michael Lentz: Aller Ding. Gedichte. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2003. 193 S., Fr. 33.60.

S.a. SZ 31.3.03

Howard Fast gestorben

Der amerikanische Autor Howard Fast, der vor allem als Romancier bekannt wurde, aber auch Gedichte schrieb, starb im Alter von 88 Jahren. Nachruf in der NYT vom 13.3.03

Böhmers Kaddish

Paulus Böhmers «Kaddish I-X» ist ein 350 Seiten starker Band mit zehn langen Klageliedern («Kaddish»: jüdisches, am Grab gesprochenes Gebet für Verstorbene). Diese Hervorbringungen Lyrik zu nennen, sprengt den Begriff. Böhmers Texte sind unerhörte Ergüsse, gigantische Textleiber, die sich, wie einstweilen Arno Holz‘ «Phantasus», an der Mittelachse entlang über die Seiten schieben. Eher als im deutschsprachigen Raum sind Vorbilder solcher Textströme im US-amerikanischen Langgedicht zu finden, etwa bei Walt Whitman, W.C. Williams, Ezra Pound oder Allen Ginsberg, an dessen «Kaddish» für seine Mutter Naomi der Titel Böhmers erinnert. …

Der zehnte und letzte Kaddish endet mit den Versen: «Ihr Brüder, ach, ihr Schwestern: / Heute ist schon gestern, / Morgen geht schon aus. / Gestern ist noch heute. / Und die grossen und die kleinen Leute / gehen darin ein. / Und aus.»/ Florian Vetsch, St. Galler Tagblatt 10.3.03

Paulus Böhmer: Kaddish I-X. Schöffling Verlag, Frankfurt/M 2002. Fr. 40,90

Schöne Sprechung

 

Eine Antwort kommt mit Dichters Stimme, lieber Michael:

Wenn ich die schöne Sprechung Dir nenne, so mein ich nicht jene,
die durch erhebenden Ton, künstelnden, Schmeichlerin ist:
Oberrichterin ist des Gedichts die Sprechung; was ihr nicht,
ganz sie selber zu sein, mächtiger Reiz ist, vergeht.
 

 

Zum Teufel mit allen Geschäftsideen Lyrik. Besser dann ignorieren oder deutlicher warnen.

(mailt Angelika Janz aus Aschersleben am 10.3.03). – Klopstock!

—- Da hast du Recht, liebe Angelika. Ich fange auch gleich an: und ignoriere das von einer Gedichtzeitschrift ausgeschriene Event „Lyrikband des Jahres“ (wiewohl das belobte Buch gut ist). Selber lesen.

Bachmann – Frisch

Mit dem Verhältnis Bachmann – Frisch (und Germanistik) beschäftigt sich Franz Haas in der NZZ vom 8.3.03:

In «Malina» wird der Widerspruch gegen Max Frisch nur noch in Zwischentönen deutlich, denn die Autorin hat bereits ihre erneute Zwiesprache mit Paul Celan verstärkt, dem sie sich in ihrer Poetik weitaus näher fühlen musste. Celan war schon längst vor Frisch ein Dialogpartner in Bachmanns Gedichten, er würde es auch danach wieder sein. Dazwischen aber war jener Schreckensmoment, der Jahre dauerte, in dem sie sich mit dem «Todesarten»-Projekt herumschlug, mit dem «Eheduell» und seinen Varianten, die sie allesamt so lange verwarf und vom allzu sichtbar Persönlichen befreite, bis schliesslich «Malina» entstand und vor ihrem Urteil bestehen konnte.

13.000 Gedichte

Die Presse aus Wien kommentiert die Demonstration der Dichter gegen den Krieg, die der Lyriker Sam Hamill organisiert hat (s. L&P 02/2003 – Vgl. auch hier). Auf seinem Aufruf, Gedichte gegen den Krieg einzusenden, kamen 13.000 Gedichte. / 7.3.03

13.000 Gedichte gegen den Krieg. Ist das viel? Nicht im Vergleich mit den Millionen Gedichten, die zum Beginn des Ersten Weltkriegs geschrieben wurden. Damals erfasste die jungen Männer vom Atlantik bis zum Ural, die freiwillig ins Feld zogen, eine regelrechte Kriegslyrik-Hysterie. Mit Hölderlin im Tornister wurde für das Vaterland gekämpft und gedichtet. Die Ernüchterung kam erst später, im Dreck der Schützengräben.

Alterslyrik Johannes Pauls II.

Über die am Vortag veröffentlichte Alterslyrik Johannes Pauls II. schreibt Christian Esch in der Berliner Zeitung vom 7.3.03:

Die Last des Amtes, die auch diesen Menschen sichtbar niedergedrückt hat, verleiht auch diesen Worten Gewicht. Das Amt – und das heißt auch: die Macht zum Guten wie zum Bösen, ist vom Leben nicht zu trennen, und macht das Sterben schwerer.

Über den Tod schreibt der schwer kranke, 82-jährige Johannes Paul II. auch an einer anderen Stelle: „Das, was wohlgeformt war, wird unförmig. Das, was lebendig war – ist jetzt leblos. Das, was schön war – ist jetzt hässliche Verwüstung. Doch ich sterbe nicht ganz, denn das, was in mir ist, dauert fort als unzerstörbar.“

Der Beitrag der Süddeutschen zitiert aus einem frühen Stück (1940) des heutigen Papstes:

„In meinen Reden“, sagt der Dichter und Priester aus Polen, „liegt der Verzweiflung Ruf. Es reicht zuweilen hinzusehen und du nimmst wahr, nimmst wahr.“

Papstlyrik

Am 6.3.03 wird eine Gedichtsammlung von Papst Johannes Paul II. unter dem Titel „Römisches Triptychon“ veröffentlicht. Auf zeitgleichen Pressekonferenzen in Krakau und Rom sollen die polnische und die italienische Fassung präsentiert werden.

Missachtung und Tabu

In der FR vom 6.3.03 geht Hanno Loewy noch einmal auf Klaus Brieglebs Streitschrift zum Thema Antisemitismus in der Gruppe 47 ein:

Mancher geht dabei so weit, Brieglebs Argumente zu pathologisieren. Reinhard Baumgart vergleicht ihn schließlich gar mit David Irving. Nun ja – als Paul Celan 1952 auf der 47er Tagung in Niendorf ausgelacht wurde, da hätte sein „pathetischer“ Vortragsstil die 47er, wie Walter Jens sich ganz arglos äußerte, an Joseph Goebbels erinnert. Man ist also selbst nicht zimperlich, wenn der Spaß aufhört. Die interessante Frage aber ist, warum eigentlich der Spaß gerade hier aufhört.

Ist Brieglebs Streitschrift am Ende doch nicht Ausdruck einer „Anti-Richter (-Walser, -Grass, -Raddatz, -Kaiser)-Obsession“ (Frauke Meyer-Gosau), sondern etwas Einfacheres: Ausdruck einer Wut? Einer Wut, die ein Spiel wie „mein Name ist Hase, ich weiß von nichts“ unweigerlich erzeugt. Einer Wut, die in eine verletzende, vor allem aber eigene Verletzung preisgebende Verbindung von Polemik und Essay mündet. Ist Brieglebs Wut eine zwar nicht kluge, aber verständliche Reaktion auf ein Phänomen, dessen Gestalt wir im Verhalten eines Raddatz, eines Jens oder Baumgart erneut, sozusagen frisch studieren können?

Briegleb, Klaus
Missachtung und Tabu
Eine Streitschrift über die Frage: Wie antisemitisch war die Gruppe 47?
(Philo) ISBN 3-8257-0300-2
42,80 sFr / 24,90 Eur[D] / 25,60 Eur[A]