Archiv unterdrückter Literatur in der DDR

Die Autoren Ines Geipel und Joachim Walther haben jetzt bekannt gegeben, daß sie an einem „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“ arbeiten.

Für Literaturwissenschaftler könnte sich hier ein Fundgrube auftun, etwa in den Gedichten von Edeltraut Eckert, deren Schwester ein Schreibheft mit 101 Gefängnis-Gedichten zur Verfügung gestellt hat: Edeltraut Eckert, 1950 vom sowjetischen Militärgericht zu einem Vierteljahrhundert Arbeitslager verurteilt, starb 1955 im Alter von 25 Jahren in einem Leipziger Haftkrankenhaus. / Berliner Morgenpost 18.8.03

Reiner Kunze 70

Zum 70. Geburtstag von Reiner Kunze: Ostthüringer Zeitung 21.8.03 / Berliner Morgenpost 16.8.03 / Berliner Zeitung 16.8.03

Sprachverrückt

Das «Poem über den Laut» [von Andrej Bely] ist ein genialisches Kompilat, in dem angelesenes Wissen und beiläufige Assoziationen, dichterische Einbildungskraft und missionarischer Eifer, philologische Akribie und philosophische Spekulation sich zu einer wahrhaft glossolalischen Wortflut vereinigen, die Relikte – Laute, Silben, Wörter, Wortverbindungen – aus gut einem Dutzend lebender und toter Sprachen wie selbstverständlich mit sich führt. Der Leser ist mit einer sinfonischen Dichtung konfrontiert, die nicht primär verstanden, sondern sinnlich wahrgenommen werden will im Hinhören auf ein ur- oder universalsprachliches Raunen, das weit mehr von der Klanglichkeit der Wörter als von deren Begrifflichkeit bestimmt ist und getragen wird.
Mit der «Glossolalie» reiht er sich ein in jene hintergründige Phalanx von «Sprachverrückten», zu der, unter vielen andern Autoren, auch Swedenborg und Wölfli, Chlebnikow und Roussel gehören.

Felix Philipp Ingold, NZZ 16.8.03

Andrei Belyi: Glossolalie. Poem über den Laut. Russische Originalfassung mit deutscher und englischer Übersetzung. Mit Anmerkungen und einer Einführung von Thomas R. Beyer. Herausgegeben von Taja Gut. Pforte-Verlag, Dornach 2003. 263 S. mit zahlr. Abb., Fr. 56.-.

«gedichtbegleitende massnahme»

Indem er sprachliche Mechanismen freilegt und genussvoll ausweidet, verwickelt er sich auch leicht in kleine Diskurse, hält wie beiläufig, absichtsvoll absichtslos, vertrackte Fragen hin, winzige Theoreme: «‹ich bin ein gedicht› – sicher einer der verzwacktesten sätze deutschsprachiger lyrik. ein / widerborst. der ist wovon er spricht.»

In diesem Band kann die «gedichtbegleitende massnahme», wie es einmal heisst, nur aufmerksame Lektüre sein, und die wird reichlich belohnt. / Martin Zingg, NZZ 13.8.03

Ulf Stolterfoht: fachsprachen X-XVIII. Gedichte. Urs Engeler Editor, Basel 2002. 123 S., Fr. 25.-.

Die Vogelscheuche Nächstenliebe

Er, der vom Klang des Walisischen bezaubert war, gab sich bis auf rare Ausnahmen karg und nüchtern im Umgang mit der englischen Sprache – was die Hintergründigkeit der scheinbar so geradlinig vorgebrachten Gedanken oft noch irritierender macht. Unversehens könnte sich der Leser in einer ähnlichen Attitüde vor diesen Gedichten finden, wie sie «Die Antwort» skizziert: «Wir fahren mit den Händen / über ihre Oberfläche wie Blinde / und tasten nach dem Mechanismus, der sie aufgehen lässt. Sie geben / nach, aber nur, um sich umzugruppieren / zu neuen Problemen . . .» Dass R. S. Thomas‘ Gedichte keine schlüssigere Antwort darstellen wollen als diese, bedeutet für den Leser gleichermassen Herausforderung und Gewinn. /Angela Schader, NZZ 12.8.03

R. S. Thomas: Die Vogelscheuche Nächstenliebe. Aus dem Englischen von Kevin Perryman. Babel-Verlag, Denklingen 2003. 83 S., Fr. 33.-.

Shakespeare-Sonette

Von der Romantik als Liebeslyrik wieder- und als Erlebnislyrik neu entdeckt, sind Shakespeares 154 Sonette vielleicht immer noch weniger bekannt als seine Dramen, aber deswegen nicht weniger häufig übersetzt. Unter den zahlreichen in den letzten Jahren erschienenen Publikationen zu Shakespeare finden sich auch neue Übertragungen und Nachdichtungen der Sonette. Wieder sind zwei Übersetzungen erschienen: Ludwig Bernays hat 56, Paul Hoffmann 30 Sonette übersetzt. Bernays, 1924 geboren und dreissig Jahre als praktischer Arzt tätig, hat im Ruhestand klassische Philologie studiert und begonnen, literaturwissenschaftliche Essays und Lyrikübersetzungen zu veröffentlichen. Dagegen bildeten Probleme des Übersetzens für Paul Hoffmann (1917-1999), langjähriger Ordinarius für neuere deutsche Literatur in Tübingen, einen roten Faden seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. /Stefana Sabin, NZZ 12.8.03

Ludwig Bernays: Sonette von Shakespeare in deutscher Übertragung. Edition Signathur, Dozwil 2002. 75 S., Fr. 18.-.

William Shakespeare: Dreissig Sonette. Englisch/Deutsch. Übertragen von Paul Hoffmann. Attempto-Verlag, Tübingen 2002. 97 S., Fr. 33.50.

Sonett – Rilke und zurück

Man möchte dieser Leserschaft raten, sich in den beiden Bänden frei zu bewegen: Warum nicht bei Rilke anfangen, zu Louise Labé zurück- und weiter zu Ronsard gehen, im deutschen Barock blättern und sich zum deutschen 20. Jahrhundert ein wenig selektiver verhalten als Kemp, umso aufmerksamer die englische Sonettdichtung in Augenschein nehmen und dankbar feststellen, dass Giovanni Gioacchino Belli nicht vergessen ist . . . «Fertig» wird man nicht, und eben darauf hat es der Verfasser, wie er sagen würde, auch nicht «abgesehen». /Hanno Helbling, NZZ 6.8.03

Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. Wallstein-Verlag, Göttingen 2002. Zwei Bände, 442 und 535 S., Fr. 186.-.

Eingesandt

Ansonsten finde ich in ihrer 29. Lyrikpost die Übersetzungen von Malkowski ziemlich gräßlich, wenn ich ehrlich bin. Dieser Furor in der semantischen Genauigkeit zuungunsten des „Restes“ ist mir befremdlich. Das mag für den A-Kurs Mittelhochdeutsch eine gute Sache sein, aber sonst?
Bertram Reinecke (Leipzig)

Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Nachdichtung von Rainer Malkowski. Mit einem Nachwort von Norbert Miller. Hanser Verlag, München 2003, 151 Seiten, 14,90 €.

(vgl. archivierte Ausgabe 23/07/2003)

Gern benutze ich diese Zusendung für den Hinweis, daß in der Lyrikpost enthaltene Meinungen allemal Eigentum ihrer jeweiligen Autoren bleiben. Der Redakteur wählt aus – mit weitem Herzen, wenn auch keineswegs wahllos. Den Platz auf meiner Richterskala von voller Zustimmung über kritische Solidarität zu kritischer Distanz werde ich nur gelegentlich mitliefern (dann aber).
Im übrigen danke ich Frau Regina Berlinghof und Herrn Urs Engeler für freundlichen Zuspruch!

/ 31.7.03

Liebe Lyrikfreundinnen und -freunde in aller Welt,

Lyrikzeitung / Lyrikpost treten in eine dreiwöchige Sommerpause. Hier also die letzten Nachrichten – und voran ein Gedicht, das sich mir – warum auch immer – jetzt aufdrängt. Es stammt von einem französisch schreibenden ägyptischen Dichter koptischer Herkunft. Er heißt Georges Henein (1914 – 1973). Gefunden in: Das surrealistische Gedicht (der rote „Surrealismusziegel“) S. 557. Ein Gedicht, bei dem ich auch bitte die Anmerkung mitzulesen.

Sonia Araquistáin

grabt
und es wird ein Lächeln sein
ein Grabeslächeln
für die die das Leben beim Wort nehmen
grabt
und der Staub wird euch zu Herzen gehen
und ihr geht mit dem Herzen im Staub
während die Liebe säumt
reglos am Fensterkreuz der Weigerung

grabt
und es wird Himmel sein
es wird vielleicht Himmel sein
vielleicht die Teilung der Arten
oder der herzzerreißende Geschmack nach Regen
grabt
auf das diese Frau den Fächer ihres Sturzes entfaltet
auf daß sie für immer die Trägheit des Raumes ohrfeigt
auf daß ihr schönes Gesicht aus geborstnem Kristall
sich dem Festland vermählt

grabt
und es wird die einsamsten Augen der Welt geben
und auf dem fröstelnden Boden der Allee
eine Fremde unverhofft wie ein Fenster
grabt diesen Augen einen unmöglichen Blick
grabt unsren Namen in unsere Nacht
grabt für uns.

 

In der Anlage schicke ich Ihnen … ein Gedicht, das Sonia Araquistáin gewidmet ist. Sonia Araquistáin hat im September in London Selbstmord begangen, indem sie sich entkleidet aus dem dritten Stockwerk gestürzt hat. Da dieser Selbstmord dem niederträchtigen englischen Brauch gemäß Anlaß zu einem Prozeß gegen die Verstorbene war, wobei der Staatsanwalt eine unverhoffte Gelegenheit fand, alles verächtlich zu machen, was es an Poesie auf dieser Welt noch gibt, haben einige Freunde und ich beschlossen, als Antwort darauf eine internationale Huldigung für Sonia Araquistáin zu organisieren. Aber es scheint, daß dieses Vorhaben infolge der Kommunikationsschwierigkeiten, die zwischen Ländern und vor allem zwischen Kontinenten noch bestehen, sich verzögert. G.H.

/ 31.7.03

Verzweifeln & erleuchten…

Giuseppe Ungaretti (1888-1970) gilt als «Erfinder» der hermetischen Lyrik: Hitler hätte sein Werk wohl in den Mülleimer für Entartetes geworfen; Mussolini hingegen gefiel es so sehr, dass er ihn im Aussenministerium als Pressesprecher einstellte. Das erstaunt, sind doch die Gedichte alles andere als pathetisch-schwülstiges Poesiebrimborium.

Und heute? In Berlusconis «Alles-ist-eine-Show-Italien» erscheint diese Lyrik wie ein Fremdkörper. Umso verdienstvoller, dass unter dem Titel «Zeitspüren» eine vom österreichischen Lyriker Christoph Wilhelm Aigner ausgesuchte und übersetzte Auswahl von Gedichten Ungarettis erschienen ist, die daran erinnert, dass es auch ein leiseres und widersprüchlicheres Italien gibt, als das Berlusconis. …
Der zweisprachige Auswahlband von C. W. Aigner bietet die Möglichkeit, sich Ungaretti anzunähern, zu verzweifeln – und erleuchtende Entdeckungen zu machen. Aigner leistet Hilfe beim Verstehen, macht aber auch deutlich, wo die Grenzen der Übersetzung liegen. Den vielleicht bekanntesten Zweizeiler Ungarettis hat Aigner gar nicht erst in seine Sammlung aufgenommen: «M’illumino / d’immenso». / Roland Maurer, St. Galler Tagblatt 28.7.03

Giuseppe Ungaretti: Zeitspüren. Gedichte. Ausgewählt und übertragen von Christoph Wilhelm Aigner. DVA, Stuttgart 2003, Fr. 30.20

Von einem, der es wissen musste,

stammen die folgenden Verse, die noch heute jeder halbwegs gebildete Italiener herzusagen weiss: «Quant’è bella giovinezza / Che si fugge tuttavia; / Chi vuol esser lieto sia, / Di doman non v’è certezza», zu Deutsch – wenn man die Achtsilbler aus dem Anfang des «Trionfo di Bacco e Arianna» erhalten will, etwa so: «Es ist so schön um die Jugend, / Die rasch und schnell verfliegt; / Wer fröhlich sein will, der soll es, / Auf das Morgen ist kein Verlass.» Eben zwanzigjährig, musste Lorenzo de‘ Medici 1469 die Nachfolge seines Vaters Piero antreten, den die Gicht hinweggerafft hatte. / NZZ 28.7.03

Hügelgesellschaft

Wie das kongolesische Bunia befriedet wird, schreibt der Tagesspiegel am 28.7.03, Zitat:

Woher der Hass zwischen den Lendu und den Hema kommt, ist schwer zu verstehen. Die Ackerbau treibenden Lendu standen immer im Konflikt mit dem im 16. Jahrhundert zugewanderten Hirtenvolk der Hema, die zur wirtschaftlichen Elite aufstiegen. Es ging um Bodenrechte. „Wir haben hier eine Hügelgesellschaft“, sagt der Lyriker Sébastien Ndrutsomi, ein Lendu. Auf jedem Hügel ein anderer Clan, der seine Interessen mit Ingrimm verteidige.

Ein Wiegenlied das weh tut

In der Reihe Poet’s Choice von Edward Hirsch, The Washington Post
Sunday, July 27, 2003; Page BW12:

The late Reetika Vazirani (1962-2003), who was found dead in Chevy Chase on July 18 with her 2-year-old son, was born in India and raised in Maryland. She published two books of poems, White Elephants (1996) and World Hotel (2002), in her short life. Her poetry showed so much cosmopolitan energy and panache, so much formal dexterity and control — her work abounds with sonnets, sestinas, villanelles — that it was possible for readers to miss its underlying sense of dislocation and homelessness. …
Reetika was a friend, and ever since her untimely death in mid-July, I have been walking around with her three-line poem „Lullaby“ on my lips. It is beautiful and inconsolable, a lullaby that wounds.

Lullaby

I would not sing you to sleep.
I would press my lips to your ear
and hope the terror in my heart stirs you.

(All quotations appear in Reetika Vazirani’s book „World Hotel.“ Copper Canyon Press. Copyright © 2002 by Reetika Vazirani.)

Jakob van Hoddis

Rolf Schneiders Berliner Anthologie, Morgenpost vom 27.7.03: Jakob van Hoddis: Morgens

Pounds musikalisches Œuvre

Daß Adornos Musik „bekanntlich von Webern“ sei, las ich neulich irgendwo – in der taz? Ezra Pounds musikalisches Œuvre stellt die New York Times am 27.7.03 vor.