192 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Heute vor 2 Jahren starb der Dichter Bert Papenfuß. Ich setze die Papenfußserie fort: aus jedem seiner Gedichtbände in chronologischer Folge nach Erscheinungsjahr ein Gedicht. Heute: mors ex nihilo (1994).
Bert Papenfuß
(Geboren am 11. Januar 1956 in Stavenhagen; gestorben am 26. August 2023 in Berlin)
305 „noch wat abzurotzen?" erkundigte sich der henker
„no. i came here to die, not make a speech."
konterte der bandit, über alle backen strahlend
ganz ausgeburt eines sprosses vom stamme nimm
grünmeliert im pestdunst & von feinen zügen
310 war er von einem wilden grausamen charakter:
listig, verschlagen, tückisch, sich immer
gegenwärtig, kühn, muthig, dem trunke und
den weibern ergeben: in seiner frühen jugend
diente er im revolutionskrieg gegen helmut
315 schmidt, geriet in folge auf die galeeren,
unter die soldaten & kämpfte später tapfer
gegen doktoren, doktorinnen & doktrinen:
Aus: Bert Papenfuß, Mors ex nihilo. Zeichnungen von Jörg Immendorf. Berlin: Druckhaus Galrev, 1994 (die Seiten sind nicht nummeriert, dafür durchweg Zeilennummerierung jeder fünften Zeile). Vor der Verlagsangabe oder als Teil davon steht das Wort: VIERZEHNHUNDERTNEUNUNDNEUNZIG.
Die ersten zwei Zeilen des Gedichts stehen auf einer linken Seite am unteren Rand als einziger Text auf dieser Seite, der Rest auf der gegenüberliegenden Seite von oben.
276 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Dinçer Güçyeter
der Spiegel
ich bin es, die Schwester des Berges / weißt du / auf einem Bild von mir, als Kind / über meiner Stirn lächelte ein Koala-Aufkleber / ich bin es / der Falschgeborene / der verstohlene Bastard Heras / entführt und transportiert ins 20. Jahrhundert in einem Gastarbeiterkoffer zwischen Leerraum und Ängsten, transportiert hier nach Deutschland / ich bin es / Dinçer / die Schwester des Berges / meine erste Tat auf dieser Welt: Raqib und Atid, die albernen Beamten Gottes zu bestechen / ich habe den beiden den Trailer meiner Geschichte gezeigt / etwas gefälschte Güte&Sünde in ihre Hände gedrückt / gebeten, mich in Ruhe zu lassen / gute Kerle, die Beiden / sie wissen auch / Widerstand gegen eine Menschenseele, in der Realität sowie in der Mythologie, bleibt immer ein Minusgeschäft / seitdem sitze ich hier / vor deinem irritierten Reflektieren / du verstehst nicht, wieso ich den Leitstrahl durch mein Leben ablehne / ich auch nicht, ist auch irrelevant / aber du weilst, du, verstaubter Spiegel, du bist mein Ablagerungsmilieu / ich das Fossil, das seit Ewigkeiten in dir nach einer schützenden Bedeutung sucht / bevor ich vor dir stand, steckte ich so als Mikro-Ding in einem wandernden Gletscher / habe vor dem Pascha der Eisbären einen Eid gesprochen / dass ich jede Treue verabscheuen werde / ich habe mein Wort gehalten, frage mich bitte nicht / warum jetzt die Eisberge, die Steppen mit Blut gefüllt sind / warum ich dir das alles schreibe? / ich habe vor ein paar Tagen ein verbranntes Koalagesicht gesehen / deshalb / alles wird beim Alten bleiben / der Eid / die onanierende Reflektion / der Steinschlag auf meiner Brust / die Flamme über meiner Stirn … / ich bin es /
die Schwester des Berges …
Aus: Dinçer Güçyeter, Mein Prinz, ich bin das Ghetto. Gedichte. Elif Verlag 2022 (5. Auflage), S. 45

Eugen Gomringer
fünf vokale

Ebd. S. 153
MARINA VON ASSEL
Eugen Gomringer AEIOU, 1985
Ein Ornament aus rechtwinkeligen Linien ist in der Mitte der Fläche angeordnet. Vier Formen sind in imaginäre Quadrate eingeschrieben.
Eine Mittellinie teilt die beiden oberen Formen und die untere in symmetrische Hälften. Die vierte ist an der rechten Seite offen gelassen, wirkt daher unfertig. A, E, I, O und U, um das große <I> gruppieren sich in der Senkrechten die anderen vier Vokale.
Buchstaben und Schriften sind stets abstrahierte Zeichen. Sie funktionieren nur in einem vordefinierten System, auf das sich ihre Benutzer einigen. Jede Sprache und in jeder Sprache wieder jeder Dialekt, jede Mundart, verwenden daher unterschiedliche Schreibweisen und Aussprachen, um sich voneinander abzugrenzen.
AEIOU ist ein Bild. Im Bild verdichtet sind die Buchstaben reduziert auf ihren formalen Ausdruck. Sie bilden ein Ornament, das Assoziationen an archaische Stelen weckt. Die gestalterische Kraft der Symmetrie und des Lineaments wirken visuell auf den Betrachter und lassen die lautmalerische Aussage der Vokale in den Hintergrund treten.
Ebd. S. 158
Am 21. August 2025 ist Eugen Gomringer im Alter von 100 Jahren und 7 Monaten in Bamberg gestorben.
148 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Yevgeniy Breyger
kleiner Exkurs
meine freundin Julia kommt 2000 aus der ukraine nach D
ist von beruf chemikerin, diplomiert, hat im labor gearbeitet
auf dem diplom steht: химик, bedeutet: chemiker
sie will das in D bestätigen lassen zum weiterarbeiten
geht also in irgendein zuständiges ämtchen und das beamtchenlein
JAJA, NICHT ANDERS ZU ERWARTEN:
химик ist ja nicht chemiker, wir schreiben ihnen, sie sind химик
auf deutsch „Chimik", aber sowas haben wir hier nicht, sry sry
hier gibt's nur chemiker und chemikerinnen, ham keine Chimiks
UND
Julia darf in ihrem beruf nicht mehr arbeiten, herzlichen dank!
macht erstmal aushilfsjobs im labor, dann frustriert, depression
heirat, 2 kinder, weiter depression, scheidung
geht ins weinbusiness, schreibt gedichte, weiter depression
wollt ihr wissen, wer zu den top 5 coolste menschen auf der welt gehört:
Julia Grinberg
spoiler, ihr seid nicht dabei, ich auch nicht
Aus: dreizehn+13 Gedichte. Freundschaft. Sommer 2025, S. 155
96 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Franzobel
Klagbaumgasse
Im tiefsten Wiener, wenn es schneit,
Eiszapfen von den Regenrinnen flennen
wenn Hunger es in den Mägen gärt
die Luft vor den Mündern in Scherben zerfällt.
Im tiefsten Wiener, wenn es klirrt
und alles Kälte von den Bäumen fällt,
die Straßenbahn schon nicht mehr fährt
die Kinder an der Schule verhungern.
Im tiefsten Wiener, wo es plärrt,
Wiener, tiefster Wiener,
und ringt nur noch um Luft,
um Wienerabende am Feuer.
Aus: Lyrik von jetzt. 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. Herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner. Köln: DuMont, 2003, S. 123
Jussi Hyvärinen
Fremdsprachiges Gedicht
Die Lippen liebkosen fremde Wörter, Knospen,
die nur für ein anderes Volk erblühen.
Die Zunge schmiedet Phoneme; hölzerne Klötze, ohne Farben,
wie sie klappern, harmonieren, stumme Rhythmen klopfen,
Wände, Räume, Häuser, Städte bilden,
in denen ich wandele, eine Binde über den Augen, Wachs in den Ohren.
Und die Finger tasten nach leeren Rahmen, ohne Funktion.
Warum singen die Laute dennoch, warum gleiten s, I und m so hübsch
und lassen die Sirenen ihre Arien fließen; a, e, i, o, u?
Und wenn man das Wörterbuch aufschlägt, springen die
Bedeutungen ins Auge, irgendeine von ihnen passt in den Rahmen,
wenn auch nicht genau, dennoch erblühen die Wörter in der eigenen
Sprache, duften, berühren die Haut,
und die Muttersprache gebiert alles von Neuem, verschluckt es,
vereint es mit ihrem Meer – Es ist mein Volk, seine Sprache, es ist
ein Gedicht, das entsteht und vergeht,
es ist das Volk, nach dem ich suche, nach dessen Worten ich greife,
sie erreiche
und wieder verliere.
Aus dem Finnischen von Svenja Knoke und Sabrina L. V. Scholz, aus: Matthias Friedrich, Slata Kozakova (Hrsg.): Einbildung eines eleganten Schiffbruchs. Gedichte aus dem Ostseeraum. Leipzig: Reinecke & Voß, 2017, S. 45
Vieraskielinen runo
Huulet hyväilevät vieraita sanoja, nuppuja
jotka kukkivat vain toiselle kansalle.
Kieli takoo foneemeja; puisia palikoita, ilman värejä,
kuinka ne kopisevat, sointuvat, hakkaavat mykkiä rytmejä,
ovat seiniä, huoneita, taloja, kaupunkeja,
joissa vaellan side silmillä, vahaa korvissani,
ja sormet tapailevat tyhjiä kehikoita, vailla tarkoitusta.
Miksi äänteet laulavat silti, miksi soljuvat soreasti s, l ja m,
ja seireenit juoksuttavat aarioitaan: a, e, i, o, u?
Ja kun sanakirjan avaa, hyppäävät silmille merkitykset,
jokin niistä sopii kehikkoon, vaikka ei täsmälleen, silti
sanat kukkivat omaan kieleen, tuoksuvat, hipovat ihoa,
ja äidinkieli synnyttää kaiken uudelleen, syö jälleen, sulattaa
omaan mereensä – On kansani, sen kieli, on runo joka syntyy
ja katoaa,
on kansa jota etsin, sen puhe jota haen, tavoitan
ja kadotan taas.
Aus: ebd. S. 44
Jussi Hyvärinen, geboren 1973 in Rääkkylä, studierte russische Sprache und Literatur in Helsinki (Promotion 2016 über die Lyrik von Osip Mandelstam) und absolvierte eine Ausbildung zum Bibliothekar. 2003 erhielt er den 1. Preis beim J. H. Erkko-Wettbewerb. Er lebt in Joensuu, wo er an der Universitätsbibliothek arbeitet.
Gottfried Benn
(* 2. Mai 1886 in Mansfeld bei Putlitz, Prignitz; † 7. Juli 1956 in Berlin)
Turin
»Ich laufe auf zerrissenen Sohlen«,
schrieb dieses große Weltgenie
in seinem letzten Brief –, dann holen
sie ihn nach Jena –; Psychiatrie.
Ich kann mir keine Bücher kaufen,
ich sitze in den Librairien:
Notizen –, dann nach Aufschnitt laufen: –
das sind die Tage von Turin.
Indess Europas Edelfäule
an Pau, Bayreuth und Epsom sog,
umarmte er zwei Droschkengäule,
bis ihn sein Wirt nach Hause zog.
Aus: Gottfried Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch, 1988, S. 271 (Erstdruck 1936)
132 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Heike Fiedler
Windböen Basel, 2015
Als hätte der Sturm
die Worte zerrissen, Zelte
in die Luft gehoben,
Blätter über Kiesel
gefegt, die Äste
im Wind, der Regen
tropft
in den Fluss
m.einer Sprache
Von den Ufern
der Wupper, Rhône,
Rhein, der Sommer
streift die Augen
des Gedichts
Aus: Heike Fiedler: tu es! hier. Gedichte & Sprechtexte. Luzern: Der gesunde Menschenversand, 2022. (edition spoken script), S. 42. Dies und das folgende im Abschnitt: Naturgedichte.
Paulownia tomentosa
Du brachtest eine Blüte
von draußen nach Hause,
wir schauten
im Internet nach.
Sie kam von einem
Blauglockenbaum,
den Tahar Bekri
in einem seiner Gedichte
erwähnt.
Das Buch lag
grad noch geöffnet
neben
meinem Computer.
Aus: Ebd. S. 44
Heike Fiedler, geboren 1963 in Opladen, aufgewachsen in Düsseldorf, lebt in Genf. – Auf lyrikline.org liest die Autorin 12 Gedichte.
493 Wörter, 3 Minuten Lesezeit
Zum 90. Geburtstag des Dichters Karl Mickel stelle ich kommentarlos Auszüge aus einem Bericht über seine Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR und eins meiner langjährigen Lieblingsgedichte untereinander.
Mickel verstand sich vermutlich nicht als gewöhnlicher Spitzel, sondern als Gesprächspartner der Stasi auf Augenhöhe, der mittels dieser Kontakte seine Vorstellungen umsetzen wollte. In diesem Sinne gab er zwei Jahre lang bereitwillig interne Informationen weiter, führte Gewünschtes aus und glaubte in massiver Selbstüberschätzung, die Stasi instrumentalisieren zu können. (…)
Mickel, wohl zu narzißtisch, um die tatsächlichen Machtverhältnisse zu realisieren, war für die Stasi schlicht ein klassisch geführter IM, über den sie ihre Strategie der 1980er Jahre vorantrieb. Nicht zuletzt deshalb war er ein ausgezeichnetes Instrument. Er kooperierte in allen Belangen und setzte geschickt um, was man mit ihm besprach. Auch wenn es sich für Mickel vermutlich anders darstellte, war er am Ende nichts anderes als ein Einflußagent eines Geheimdienstes, mit dem andere nicht kooperiert hätten (…).
Mickels Sperrigkeit war nur scheinbare Opposition. Er gefiel sich gut eingerichtet und ohne moralische Skrupel im kryptisch Artifiziellen und suggerierte Widerständiges. In dieser Inszenierung zog er den jungen literarischen Widerstand an und lähmte ihn zugleich. Diesen Typus der vermeintlich kritischen und dabei systemstabilisierenden Attitüde gab es nicht nur in der späten DDR. Ein noch zu erforschendes Feld im Hinblick auf das Thema Künstler und Diktaturen.
Daß es auch anders ging, ist von Mickels Freund Rainer Kirsch in den Akten überliefert: „Ich kann mir schon denken, was Sie von mir wollen“, hielt er den Stasioffizieren entgegen, „ich soll für Sie Leute bespitzeln. Wenn Sie aus diesem Grunde gekommen sind, so will ich es gleich frei heraus sagen, von mir werden Sie keine Zustimmung dafür erhalten.“Die Feststellung des bärbeißigen Adolf Endler, wenigstens sei es der Stasi nie gelungen, einen der 19 Protagonisten der „sächsischen Dichterschule“ anzuheuern, ist überholt. Und das Lob jüngerer Autoren auf Karl Mickel, der sie angesprochen habe, sich nicht mit politischen Gedichten und Petitionen abzugeben, sondern ganz in die Kunst zu gehen, erscheint im Wissen um Mickels stasiunterfütterte Entpolitisierungsstrategie in einem anderen Licht. Auf jeden Fall hätte Mickel im Zuge der Evaluationsverfahren aufgrund seiner doppelten Stasieinlassung nach 1989 nicht an der Schauspielschule „Ernst Busch“ weiter beschäftigt werden dürfen. Aber auch hier war er Profiteur, diesmal des Verschweigens.
Aus: Andreas Petersen: Zum Doppelleben des Dichters Karl Mickel. Wie aus In-und Auslandsagenten „hochgelehrte Käuze“ werden. https://zeitschrift-fsed.fu-berlin.de/index.php/zfsed/article/view/510/491
Karl Mickel
(* 12. August 1935 in Dresden; † 20. Juni 2000 in Berlin)
Bier. Für Leising
Maulfaul, schreibfaul bist du, Richard, gern
Stemm ich aufn Tisch zwei Ellenbogen
Und denke, es sind viere. Was steht zwischen
Uns? Bier. Helga! noch zwei große
Weiße Blumen auf dem gelben Stiel.
Was tue ich? sagst du, ich deute
An, sag ich. Die Wirklichweisen
Wenn die was sagen, sagen die: Naja
Ich kenne eine Frau, vom Hörensagen
Aber verbürgt: dreißig, neun Jahre am Fließband
Der zucken, wo sie geht und liegt, die Arme
Die läuft zum Psychiater, denn sie wünscht
Zu kündigen. Der Wunsch, klagt sie, sei krankhaft.
Wer Ohren hat zu sehen der wird schmecken.
Aus: Karl Mickel, Eisenzeit. Gedichte. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 1975, S. 40
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