Mors ex nihilo

192 Wörter, 1 Minute Lesezeit

Heute vor 2 Jahren starb der Dichter Bert Papenfuß. Ich setze die Papenfußserie fort: aus jedem seiner Gedichtbände in chronologischer Folge nach Erscheinungsjahr ein Gedicht. Heute: mors ex nihilo (1994).

Bert Papenfuß

(Geboren am 11. Januar 1956 in Stavenhagen; gestorben am 26. August 2023 in Berlin)

305   „noch wat abzurotzen?" erkundigte sich der henker
„no. i came here to die, not make a speech."
konterte der bandit, über alle backen strahlend
ganz ausgeburt eines sprosses vom stamme nimm
grünmeliert im pestdunst & von feinen zügen
310 war er von einem wilden grausamen charakter:
listig, verschlagen, tückisch, sich immer
gegenwärtig, kühn, muthig, dem trunke und
den weibern ergeben: in seiner frühen jugend
diente er im revolutionskrieg gegen helmut
315 schmidt, geriet in folge auf die galeeren,
unter die soldaten & kämpfte später tapfer
gegen doktoren, doktorinnen & doktrinen:

Aus: Bert Papenfuß, Mors ex nihilo. Zeichnungen von Jörg Immendorf. Berlin: Druckhaus Galrev, 1994 (die Seiten sind nicht nummeriert, dafür durchweg Zeilennummerierung jeder fünften Zeile). Vor der Verlagsangabe oder als Teil davon steht das Wort: VIERZEHNHUNDERTNEUNUNDNEUNZIG.

Die ersten zwei Zeilen des Gedichts stehen auf einer linken Seite am unteren Rand als einziger Text auf dieser Seite, der Rest auf der gegenüberliegenden Seite von oben.

Sand in den Schuhen Kommender zu sein

178 Wörter, 1 Minute Lesezeit

Gertrud Kolmar 

(Geboren am 10. Dezember 1894 in Berlin; ermordet Anfang März 1943 in Auschwitz)

Die Fahrende

Alle Eisenbahnen dampfen in meine Hände,
Alle großen Häfen schaukeln Schiffe für mich,
Alle Wanderstraßen stürzen fort ins Gelände,
Nehmen Abschied hier; denn am andern Ende,
Fröhlich sie zu grüßen, lächelnd stehe ich.

Könnt ich einen Zipfel dieser Welt erst packen,
Fänd ich auch die drei andern, knotete das Tuch,
Hängt es auf einen Stecken, trügs an meinem Nacken,
Drin die Erdenkugel mit geröteten Backen,
Mit den braunen Kernen und Kalvillgeruch.

Schwere eherne Gitter rasseln fern meinen Namen,
Meine Schritte bespitzelt lauernd ein buckliges Haus;
Weit verirrte Bilder kehren rück in den Rahmen,
Und des Blinden Sehnsucht und die Wünsche des Lahmen
Schöpft mein Reisebecher, trinke ich durstig aus.

Nackte, kämpfende Arme pflüg ich durch tiefe Seen,
In mein leuchtendes Auge zieh ich den Himmel ein.
Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen,
Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen,
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.

Aus: Gertrud Kolmar: Tag- und Tierträume. Gedichte. Auswahl und Nachwort von Friedhelm Kemp. München: dtv, 1963, S. 12

ich bin es / Dinçer

276 Wörter, 1 Minute Lesezeit

Dinçer Güçyeter

der Spiegel

ich bin es, die Schwester des Berges / weißt du / auf einem Bild von mir, als Kind / über meiner Stirn lächelte ein Koala-Aufkleber / ich bin es / der Falschgeborene / der verstohlene Bastard Heras / entführt und transportiert ins 20. Jahrhundert in einem Gastarbeiterkoffer zwischen Leerraum und Ängsten, transportiert hier nach Deutschland / ich bin es / Dinçer / die Schwester des Berges / meine erste Tat auf dieser Welt: Raqib und Atid, die albernen Beamten Gottes zu bestechen / ich habe den beiden den Trailer meiner Geschichte gezeigt / etwas gefälschte Güte&Sünde in ihre Hände gedrückt / gebeten, mich in Ruhe zu lassen / gute Kerle, die Beiden / sie wissen auch / Widerstand gegen eine Menschenseele, in der Realität sowie in der Mythologie, bleibt immer ein Minusgeschäft / seitdem sitze ich hier / vor deinem irritierten Reflektieren / du verstehst nicht, wieso ich den Leitstrahl durch mein Leben ablehne / ich auch nicht, ist auch irrelevant / aber du weilst, du, verstaubter Spiegel, du bist mein Ablagerungsmilieu / ich das Fossil, das seit Ewigkeiten in dir nach einer schützenden Bedeutung sucht / bevor ich vor dir stand, steckte ich so als Mikro-Ding in einem wandernden Gletscher / habe vor dem Pascha der Eisbären einen Eid gesprochen / dass ich jede Treue verabscheuen werde / ich habe mein Wort gehalten, frage mich bitte nicht / warum jetzt die Eisberge, die Steppen mit Blut gefüllt sind / warum ich dir das alles schreibe? / ich habe vor ein paar Tagen ein verbranntes Koalagesicht gesehen / deshalb / alles wird beim Alten bleiben / der Eid / die onanierende Reflektion / der Steinschlag auf meiner Brust / die Flamme über meiner Stirn … / ich bin es /
die Schwester des Berges …

Aus: Dinçer Güçyeter, Mein Prinz, ich bin das Ghetto. Gedichte. Elif Verlag 2022 (5. Auflage), S. 45

fünf vokale

Aus: Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays. Hrsg. Nortrud Gomringer. Wädenswil: Nimbus, 2018, S. 152

Eugen Gomringer

fünf vokale

Ebd. S. 153

MARINA VON ASSEL

Eugen Gomringer AEIOU, 1985

Ein Ornament aus rechtwinkeligen Linien ist in der Mitte der Fläche angeordnet. Vier Formen sind in imaginäre Quadrate eingeschrieben.

Eine Mittellinie teilt die beiden oberen Formen und die untere in symmetrische Hälften. Die vierte ist an der rechten Seite offen gelassen, wirkt daher unfertig. A, E, I, O und U, um das große <I> gruppieren sich in der Senkrechten die anderen vier Vokale.

Buchstaben und Schriften sind stets abstrahierte Zeichen. Sie funktionieren nur in einem vordefinierten System, auf das sich ihre Benutzer einigen. Jede Sprache und in jeder Sprache wieder jeder Dialekt, jede Mundart, verwenden daher unterschiedliche Schreibweisen und Aussprachen, um sich voneinander abzugrenzen.

AEIOU ist ein Bild. Im Bild verdichtet sind die Buchstaben reduziert auf ihren formalen Ausdruck. Sie bilden ein Ornament, das Assoziationen an archaische Stelen weckt. Die gestalterische Kraft der Symmetrie und des Lineaments wirken visuell auf den Betrachter und lassen die lautmalerische Aussage der Vokale in den Hintergrund treten.

Ebd. S. 158

Am 21. August 2025 ist Eugen Gomringer im Alter von 100 Jahren und 7 Monaten in Bamberg gestorben.

meine freundin Julia

148 Wörter, 1 Minute Lesezeit

Yevgeniy Breyger


kleiner Exkurs

meine freundin Julia kommt 2000 aus der ukraine nach D
ist von beruf chemikerin, diplomiert, hat im labor gearbeitet
auf dem diplom steht: химик, bedeutet: chemiker
sie will das in D bestätigen lassen zum weiterarbeiten
geht also in irgendein zuständiges ämtchen und das beamtchenlein
JAJA, NICHT ANDERS ZU ERWARTEN:
химик ist ja nicht chemiker, wir schreiben ihnen, sie sind химик
auf deutsch „Chimik", aber sowas haben wir hier nicht, sry sry
hier gibt's nur chemiker und chemikerinnen, ham keine Chimiks
UND
Julia darf in ihrem beruf nicht mehr arbeiten, herzlichen dank!
macht erstmal aushilfsjobs im labor, dann frustriert, depression
heirat, 2 kinder, weiter depression, scheidung
geht ins weinbusiness, schreibt gedichte, weiter depression
wollt ihr wissen, wer zu den top 5 coolste menschen auf der welt gehört:
Julia Grinberg
spoiler, ihr seid nicht dabei, ich auch nicht

Aus: dreizehn+13 Gedichte. Freundschaft. Sommer 2025, S. 155

Wiener

96 Wörter, 1 Minute Lesezeit

Franzobel

Klagbaumgasse

Im tiefsten Wiener, wenn es schneit,
Eiszapfen von den Regenrinnen flennen
wenn Hunger es in den Mägen gärt
die Luft vor den Mündern in Scherben zerfällt.
Im tiefsten Wiener, wenn es klirrt
und alles Kälte von den Bäumen fällt,
die Straßenbahn schon nicht mehr fährt
die Kinder an der Schule verhungern.
Im tiefsten Wiener, wo es plärrt,
Wiener, tiefster Wiener,
und ringt nur noch um Luft,
um Wienerabende am Feuer.

Aus: Lyrik von jetzt. 74 Stimmen mit einem Vorwort von Gerhard Falkner. Herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner. Köln: DuMont, 2003, S. 123

Wenn die Welt die Tür ist (und das ist sie)

321 Wörter, 2 Minuten Lesezeit

Es ist immer ein Festtag, wenn ein neues Schreibheft im Briefkasten liegt. Erstes Kosten und Schnuppern der Dinge, die in den nächsten Wochen genauer studiert werden wollen. Gestern kam Nr. 105 mit den Schwerpunktthemen Eric de Kuyper, Gregor von Rezzori und James Agee (letzterer ein Filmschriftsteller) und wie immer noch etwas drum herum. Aus dem Entree ein Gedicht für heute. Es stammt von dem britischen Schriftsteller John Riley (1937-1978). Riley wurde in der Nacht vom 27. zum 28. Oktober 1978 in der Nähe seines Hauses in der Heimatstadt Leeds bei einem Überfall ermordet. Seine Gedichte wurden von Jürgen Brôcan und Roberta Harms ins Deutsche übertragen. Für mich einziges Manko dieser exquisiten Zeitschrift für Weltliteratur ist das Fehlen der Originaltexte. Ich verstehe, dass das nicht zuletzt ein Problem des Umfangs ist, aber könnte man nicht wenigstens jeweils ein Stück-, ein Gedichtchen im Original hinzufügen?

John Riley 

(* 10. Oktober 1937 in Leeds; † 27. Oktober oder 28. Oktober 1978 ebenda) 

WENN DIE WELT

Wenn die Welt alles ist (und das ist sie), was der Fall ist (eine hohe
Tür schlägt zu und öffnet sich), wie dann bejahen,
Dass sie zu viel ist dass sie
Wächst und schrumpft und anfängt und endet
Wie absichtlich, was nichts an dem ändert,
Was auch immer der Fall ist : zu viel, zu voll, fließt sie
Nicht über, wie Wasser von einem Brunnenbecken zum nächsten, von einer
Zeit und einem Raum zu weiterer Zeit, weiterem Raum, sondern zum Schweigen .

Poesie und das Material der Poesie sind dasselbe –
Selbstverständlich, und ist das nicht zu viel? Ich falle
Ich falle ins Gras – eine andere Welt, überwunden durch Schwemme,
Rot und gelb, weiß und rosa, die Rhododendronblätter
Scheinen sich im selben Wind zu bewegen, der auch die Amsel
Auf dem Rasen zerzaust. Wenn die Welt die Tür ist (und das ist sie),
an die wir klopfen,
Dann ist Poesie das Klopfen, ist die Welt des Klopfens der Fall .

Aus: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur, 105, August 2025, S. 6

Über Hosen

145 Wörter, 1 Minute Lesezeit

Sandra Trojan

Meine Hose

Immer schreibst du über Hosen
sagst du. Hosen, die herunterfallen
Hosen, die auf dem Boden um
die Knöchel liegen, Khakis über
der Stuhllehne, aufgeknöpfte
Jeans, die einem Mädchen
ohne BH in deinem Zimmer
die Beine entlang zu Boden sinken.

Sie mag Erdbeeren und Strohhalme zum
Knicken, erzählt sie dir und kickt
sich die Hose vom Fuß. Du schon
im Bett, Arme hinter dem Kopf
verschränkt, Blick auf das Mädchen
(ohne Hose), das langsam wie Katze
auf Zunge über deine Beine schleicht.

Ich hab mich hier unten im Garten
versteckt, selbst die Laken zwischen
den Wäscheklammern wissen
dass sie noch bei dir ist. Und so
kratze ich über einen Ameisenbiss
an meinem Innenschenkel und
lasse dafür meine Hose fallen
so wie das Mädchen ohne Hose
dein langbeiniges Hermelin.

Aus: Sandra Trojan, Um uns arm zu machen. Gedichte. Leipzig: poetenladen, 2009, S. 25

„Kohln holn – sonst wird das nix“

340 Wörter, 2 Minuten Lesezeit

Zur Erinnerung an Peter Brasch

Peter Brasch, der jüngere Bruder von Thomas und Klaus Brasch, war ein Meister des tragikomischen Alltagsmonologs. In seinem Gedicht „Requiem für ein Tach“ verdichten sich Kälte, Zärtlichkeit, Witz und Weltflucht zu einem Liebesdialog voller Lücken und Lärmen. Eine zärtlich-chaotische Szene zweier Verlorener im Prenzlauer-Berg-Winter, irgendwo zwischen Kohlenkeller und Dachrinne, zwischen Sofia Loren und Grubenunglück.

Hier redet sich jemand gegen die Einsamkeit in Rage – mit sarkastischer Wärme, rauchigem Trotz und einem prekären Rest Hoffnung. In diesem Jahr wäre er 70 geworden. Wir erinnern mit diesem Text an einen Dichter, der den Sound der späten DDR und der Nachwendezeit in ihrer schrägen Melancholie einfing.

Peter Brasch

(* 18. September 1955 in Cottbus; † 28. Juni 2001 in Berlin) 

Requiem für ein Tach
Ein Liebesgedicht

Stoß jetzt die Decke weg Mann und Geh in Keller
Kohlen holen/Iss kalt Ich bin zu faul/Rauch ich jetz
Oder Nich/Iss nich gesund/Hörst Du Lieb/Mein Lieb/
Wo iss denn der Wein von Gestern/War was übrig!/Da
liegt Schon wieder Schnee aufm Fenster/Der kotzt ein
an dieser Schnee/Da war ein Grubenunglück/Ob sie
schon aus dem Schacht sinn/Umarm mich ma, iss kalt/
Ja/Umarmst mich seltener immer sel-Tener./Nee./
Willst du weiterschlafn/Mach ich die Augen zu und
denk da iss gar keine Frau Weil keine da war/Stell dir
doch eine vor Du Idiot/Nimm die Hand da weg/– – –
sofia loren sitzt auf der dachrinne zusamm mit den
Taubn: LIEBER NE BLINDE IM BETT ALS NE TAUBE
AUFM DACH. – sofia loren jedenfalls sitzt aufm dach-
first und bohrt sich mitm streichholz im Ohr und hustet.
– Jaja/Diese Wohnung ist ein Lazarett für vereiste
Fensterscheibn/Sag ich Dir/Ich küss dich jetzt/Werd
doch mal erwaxen Mann/Ich bin ein doter Verkannter/
Ein verkanteter Toter biss Du/Am meisten wenn du
gesund bist/Schmatz nich so beim Rauchen/Kohln holn
Los raus jetz Zusammreißen Aufstehn Mann/So iss das
Leben Sonst wird das Nix/Ich reiß mich zusamm jetz,
solang biß nich mehr beisamm bin Reiß ich mich/Iss
gut/Küß mich/Mußt du immer das letzte Wort Ham/– – –

Aus: Peter Brasch, Rückblenden an Morgen. Stücke Gedichte Prosa. Berlin und Weimar: Aufbau, 1991, S. 79

Das Gedicht als Sprachabenteuer

Jussi Hyvärinen

Fremdsprachiges Gedicht

Die Lippen liebkosen fremde Wörter, Knospen,
die nur für ein anderes Volk erblühen.
Die Zunge schmiedet Phoneme; hölzerne Klötze, ohne Farben,

wie sie klappern, harmonieren, stumme Rhythmen klopfen,
Wände, Räume, Häuser, Städte bilden,
in denen ich wandele, eine Binde über den Augen, Wachs in den Ohren.

Und die Finger tasten nach leeren Rahmen, ohne Funktion.
Warum singen die Laute dennoch, warum gleiten s, I und m so hübsch
und lassen die Sirenen ihre Arien fließen; a, e, i, o, u?

Und wenn man das Wörterbuch aufschlägt, springen die
Bedeutungen ins Auge, irgendeine von ihnen passt in den Rahmen,
wenn auch nicht genau, dennoch erblühen die Wörter in der eigenen
Sprache, duften, berühren die Haut,

und die Muttersprache gebiert alles von Neuem, verschluckt es,
vereint es mit ihrem Meer – Es ist mein Volk, seine Sprache, es ist
ein Gedicht, das entsteht und vergeht,
es ist das Volk, nach dem ich suche, nach dessen Worten ich greife,
sie erreiche

und wieder verliere.

Aus dem Finnischen von Svenja Knoke und Sabrina L. V. Scholz, aus: Matthias Friedrich, Slata Kozakova (Hrsg.): Einbildung eines eleganten Schiffbruchs. Gedichte aus dem Ostseeraum. Leipzig: Reinecke & Voß, 2017, S. 45

Vieraskielinen runo

Huulet hyväilevät vieraita sanoja, nuppuja
jotka kukkivat vain toiselle kansalle.
Kieli takoo foneemeja; puisia palikoita, ilman värejä,

kuinka ne kopisevat, sointuvat, hakkaavat mykkiä rytmejä,
ovat seiniä, huoneita, taloja, kaupunkeja,
joissa vaellan side silmillä, vahaa korvissani,

ja sormet tapailevat tyhjiä kehikoita, vailla tarkoitusta.
Miksi äänteet laulavat silti, miksi soljuvat soreasti s, l ja m,
ja seireenit juoksuttavat aarioitaan: a, e, i, o, u?

Ja kun sanakirjan avaa, hyppäävät silmille merkitykset,
jokin niistä sopii kehikkoon, vaikka ei täsmälleen, silti
sanat kukkivat omaan kieleen, tuoksuvat, hipovat ihoa,

ja äidinkieli synnyttää kaiken uudelleen, syö jälleen, sulattaa
omaan mereensä – On kansani, sen kieli, on runo joka syntyy
ja katoaa,
on kansa jota etsin, sen puhe jota haen, tavoitan

ja kadotan taas.

Aus: ebd. S. 44

Jussi Hyvärinen, geboren 1973 in Rääkkylä, studierte russische Sprache und Literatur in Helsinki (Promotion 2016 über die Lyrik von Osip Mandelstam) und absolvierte eine Ausbildung zum Bibliothekar. 2003 erhielt er den 1. Preis beim J. H. Erkko-Wettbewerb. Er lebt in Joensuu, wo er an der Universitätsbibliothek arbeitet.

Nietzsche in Turin

Gottfried Benn 

(* 2. Mai 1886 in Mansfeld bei Putlitz, Prignitz; † 7. Juli 1956 in Berlin)

Turin

»Ich laufe auf zerrissenen Sohlen«,
schrieb dieses große Weltgenie
in seinem letzten Brief –, dann holen
sie ihn nach Jena –; Psychiatrie.

Ich kann mir keine Bücher kaufen,
ich sitze in den Librairien:
Notizen –, dann nach Aufschnitt laufen: –
das sind die Tage von Turin.

Indess Europas Edelfäule
an Pau, Bayreuth und Epsom sog,
umarmte er zwei Droschkengäule,
bis ihn sein Wirt nach Hause zog.

Aus: Gottfried Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch, 1988, S. 271 (Erstdruck 1936)

Käslob

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen

(* um 1622 in Gelnhausen; † 17. August 1676 in Renchen, Hochstift Straßburg)

Lob der guten Käse

Simplex:
Ich kam einstmals in ein Wirtshaus und fand an der Wand
das Lob der guten Käse in folgenden Reimen, die ich meiner
Schreibtafel einverleibte:

Weißer Texter und Holländer
Parmesan-Käs und Friesländer
Grüner Käs ist gut und frisch;
Voigtländischer Kräuter-Käse,
So sie weich, sind gar nicht böse,
Alle taugen wohl zu Tisch.

Hiernächst Schaf- und Ziegenkäsen
Bleibt das Lob im frischen Wesen
Auch den, von der Kuh gemacht,
Wann sie mit der Milch noch streiten,
So sind diese allen Leuten
Samt dem Quark für gut geacht.

Eier-Käse wohl gewürzet
Gelb gemacht, in Topf gestürzet,
Ist belobt, gesund und gut.
Und die runden Käse-Küchlein
Wohlgebacken können gut sein,
Machen alle frisch den Mut.

Aus: Poeten tischen auf. Ein kulinarischer Streifzug durch die Weltliteratur, unternommen von Günther Cwojdrak. Berlin: Eulenspiegel, 1978, S. 52

Getanzt

72 Wörter, 1 Minute Lesezeit

Gerhard Falkner 

(* 15. März 1951 in Schwabach) 

wir wollen alle getanzt werden

wir wollen alle getanzt werden
wie Mistpapiere soll man uns zerknüllen
die Fieberschlampen sollen aus den Trögen steigen
so nackt, daß nur die Augen ihr Gesicht verhüllen

wir wollen alle getanzt werden
vors Licht von Imbißbuden hingekübelt
die Nächte werden umgebellt zu Tanzpferden
und nichts soll bleiben das sich uns verübelt

Aus: Gerhard Falkner, X-te Person Einzahl. Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996, S. 26

2 Naturgedichte

132 Wörter, 1 Minute Lesezeit

Heike Fiedler

Windböen Basel, 2015

Als hätte der Sturm
die Worte zerrissen, Zelte
in die Luft gehoben,
Blätter über Kiesel
gefegt, die Äste
im Wind, der Regen
tropft
in den Fluss
m.einer Sprache

Von den Ufern
der Wupper, Rhône,
Rhein, der Sommer
streift die Augen
des Gedichts

Aus: Heike Fiedler: tu es! hier. Gedichte & Sprechtexte. Luzern: Der gesunde Menschenversand, 2022. (edition spoken script), S. 42. Dies und das folgende im Abschnitt: Naturgedichte.

Paulownia tomentosa

Du brachtest eine Blüte
von draußen nach Hause,
wir schauten
im Internet nach.

Sie kam von einem
Blauglockenbaum,
den Tahar Bekri
in einem seiner Gedichte
erwähnt.

Das Buch lag
grad noch geöffnet
neben
meinem Computer.

Aus: Ebd. S. 44

Heike Fiedler, geboren 1963 in Opladen, aufgewachsen in Düsseldorf, lebt in Genf. – Auf lyrikline.org liest die Autorin 12 Gedichte.

„Politik und Poesie“

493 Wörter, 3 Minuten Lesezeit

Zum 90. Geburtstag des Dichters Karl Mickel stelle ich kommentarlos Auszüge aus einem Bericht über seine Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR und eins meiner langjährigen Lieblingsgedichte untereinander.

Mickel verstand sich vermutlich nicht als gewöhnlicher Spitzel, sondern als Gesprächspartner der Stasi auf Augenhöhe, der mittels dieser Kontakte seine Vorstellungen umsetzen wollte. In diesem Sinne gab er zwei Jahre lang bereitwillig interne Informationen weiter, führte Gewünschtes aus und glaubte in massiver Selbstüberschätzung, die Stasi instrumentalisieren zu können. (…)

Mickel, wohl zu narzißtisch, um die tatsächlichen Machtverhältnisse zu realisieren, war für die Stasi schlicht ein klassisch geführter IM, über den sie ihre Strategie der 1980er Jahre vorantrieb. Nicht zuletzt deshalb war er ein ausgezeichnetes Instrument. Er kooperierte in allen Belangen und setzte geschickt um, was man mit ihm besprach. Auch wenn es sich für Mickel vermutlich anders darstellte, war er am Ende nichts anderes als ein Einflußagent eines Geheimdienstes, mit dem andere nicht kooperiert hätten (…).

Mickels Sperrigkeit war nur scheinbare Opposition. Er gefiel sich gut eingerichtet und ohne moralische Skrupel im kryptisch Artifiziellen und suggerierte Widerständiges. In dieser Inszenierung zog er den jungen literarischen Widerstand an und lähmte ihn zugleich. Diesen Typus der vermeintlich kritischen und dabei systemstabilisierenden Attitüde gab es nicht nur in der späten DDR. Ein noch zu erforschendes Feld im Hinblick auf das Thema Künstler und Diktaturen.

Daß es auch anders ging, ist von Mickels Freund Rainer Kirsch in den Akten überliefert: „Ich kann mir schon denken, was Sie von mir wollen“, hielt er den Stasioffizieren entgegen, „ich soll für Sie Leute bespitzeln. Wenn Sie aus diesem Grunde gekommen sind, so will ich es gleich frei heraus sagen, von mir werden Sie keine Zustimmung dafür erhalten.“

Die Feststellung des bärbeißigen Adolf Endler, wenigstens sei es der Stasi nie gelungen, einen der 19 Protagonisten der „sächsischen Dichterschule“ anzuheuern, ist überholt. Und das Lob jüngerer Autoren auf Karl Mickel, der sie angesprochen habe, sich nicht mit politischen Gedichten und Petitionen abzugeben, sondern ganz in die Kunst zu gehen, erscheint im Wissen um Mickels stasiunterfütterte Entpolitisierungsstrategie in einem anderen Licht. Auf jeden Fall hätte Mickel im Zuge der Evaluationsverfahren aufgrund seiner doppelten Stasieinlassung nach 1989 nicht an der Schauspielschule „Ernst Busch“ weiter beschäftigt werden dürfen. Aber auch hier war er Profiteur, diesmal des Verschweigens.

Aus: Andreas Petersen: Zum Doppelleben des Dichters Karl Mickel. Wie aus In-und Auslandsagenten „hochgelehrte Käuze“ werden. https://zeitschrift-fsed.fu-berlin.de/index.php/zfsed/article/view/510/491

Karl Mickel 

(* 12. August 1935 in Dresden; † 20. Juni 2000 in Berlin)

Bier. Für Leising

Maulfaul, schreibfaul bist du, Richard, gern
Stemm ich aufn Tisch zwei Ellenbogen
Und denke, es sind viere. Was steht zwischen
Uns? Bier. Helga! noch zwei große

Weiße Blumen auf dem gelben Stiel.
Was tue ich? sagst du, ich deute
An, sag ich. Die Wirklichweisen
Wenn die was sagen, sagen die: Naja

Ich kenne eine Frau, vom Hörensagen
Aber verbürgt: dreißig, neun Jahre am Fließband
Der zucken, wo sie geht und liegt, die Arme
Die läuft zum Psychiater, denn sie wünscht

Zu kündigen. Der Wunsch, klagt sie, sei krankhaft.
Wer Ohren hat zu sehen der wird schmecken.

Aus: Karl Mickel, Eisenzeit. Gedichte. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 1975, S. 40