Monika Vasik
an niederlagen herrscht kein mangel
wenn körper sich ihrer seele bis in die letzte pore
gewiss sind als treibgut leib und sinne eins
trotz allem die vielfarbigkeit von dreck aushalten
im ansprung der fremde wo sekunden wie stunden
vergehen die lärmende enge der muße
benenn sie jetzt dichter nenn sie beim namen
sag zwang zur untätigkeit lausch dem poetischen
klang sag verdammnis zum stobenden wogen
dimme nicht den gestank mit deinen 26 buchstaben
die urgewalt eines lebendigen menschenmeers
sieh das geht lautlos des nachts eine frau unerkannt
aus dem gedächtnis der dinge flieht versehrt bis hoch
unters dunkle haupthaar aus dem offenen bild
vielleicht hebt nun endlich dein vers an schickt
morgens in alle richtungen sein kleinstes licht
Aus: Versnetze_12. Deutschsprachige Lyrik der Gegenwart. Hrsg. Axel Kutsch. Weilerswist: Ralf Liebe, 2019, S. 318
Zbigniew Herbert
(* 29. Oktober 1924, heute vor 100 Jahren, in Lwów, damals Polen; † 28. Juli 1998 in Warschau)
Brevier
Herr,
ich weiß meine tage sind gezählt
es bleiben nicht mehr viele
gerade so viele daß ich es schaffe
den sand zu raffen
mit dem bedeckt wird mein gesicht
ich schaffe es nicht
denen genugtuung zu geben
denen ich unrecht getan
noch mich bei denen zu entschuldigen
die ich gekränkt habe
darum traurig ist meine seele
mein leben
hätte einen kreis bilden sollen
sich schließen wie eine wohlkomponierte sonate
doch jetzt sehe ich deutlich
kurz vor dem schlußteil
abgerissene akkorde
falsch gewählte farben und worte
schrille dissonanzen
sprache des chaos
warum
war mein leben nicht
wie die kreise im wasser
der in unergründlichen tiefen
erwachende anfang der wächst
sich fügt zu trichtern stufen falten
um sanft zu sterben
an deinen unerforschlichen gestaden
Deutsch von Henryk Bereska, aus: Zbigniew Herbert, Gewitter Epilog. Gedichte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2000, S. 12f.
Brewiarz
Panie,
wiem że dni moje są policzone
zostało ich niewiele
tyle żebym jeszcze zdążył zebrać piasek
którym przykryją mi twarz
nie zdążę już
zadośćuczynić skrzywdzonym
ani przeprosić tych wszystkich
którym wyrządziłem zło
dlatego smutna jest moja dusza
życie moje
powinno zatoczyć koło
zamknąć się jak dobrze skomponowana sonata
a teraz widzę dokładnie
na moment przed kodą
porwane akordy
źle zestawione kolory i słowa
jazgot dysonanse
języki chaosu
dlaczego
życie moje
nie było jak kręgi na wodzie
obudzonym w nieskończonych głębiach
początkiem który rośnie
uktada sie w stoje stopnie fatdy
by skonac spokojnie
u twoich nieodgadnionych kolan
Aus: Zbigniew Herbert, Wiersze Wybrane. Wydanie nowe, zmienione. Wybór i opracowanie Ryszard Krynicki. Wydawnictwo a5, S. 327f. Ursprünglich in dem Band Epilog burzy (1998)

Alfred Henschke, genannt Klabund
(* 4. November 1890 in Crossen an der Oder; † 14. August 1928 in Davos)
Liebeslied
Dein Mund, der schön geschweifte,
Dein Lächeln, das mich streifte,
Dein Blick, der mich umarmte,
Dein Schoß, der mich erwarmte,
Dein Arm, der mich umschlungen,
Dein Wort, das mich umsungen,
Dein Haar, darein ich tauchte,
Dein Atem, der mich hauchte,
Dein Herz, das wilde Fohlen,
Die Seele unverhohlen,
Die Füße, welche liefen,
Als meine Lippen riefen –:
Gehört wohl mir, ist alles meins,
Wüßt' nicht, was mir das liebste wär',
Und gäb nicht Höll' noch Himmel her:
Eines und alles, all und eins.
Aus: Klabund, Das Leben lebt. Gedichte. Ausgewählt und herausgegeben von Joseph Kiermeier-Debre. München: dtv, 2003, S. 26
František Halas
(* 3. Oktober 1901 in Brünn, Österreich-Ungarn; † 27. Oktober 1949, heute vor 75 Jahren, in Prag)
Ein Gedicht in 3 Versionen, deutsch von Franz Fühmann und Peter Demetz und dann im tschechischen Original. (Sowie als Plus eine 4. von Künstlicher Intelligenz)
Vom Grund
Für Styrský
Mit brennender Falschheit liebe ich diese Welt
entzündet von Gott vom Teufel besudelt
mit zorniger Inbrunst liebe ich diese Welt
Von Ungeziefer wimmelt des Hungerturms Grund
und was du im Traum zu schauen schauderst
tut dir von hier aus der Tag noch kund
Im Luftzug der Finsternis zwischen Geburt und Tod
erkaltend unterm Mondkalk des Friedhofs zerreißt du
das würgende Goldband des Morgenrots
Die Reue hier haftet an nichts mehr an nichts
es rührt dich nur noch das letzte Plejadenkücken
das seienlos* unter den Seinen piepst
Was zürnst du mein Herz und beschwichtigst dich nicht
Der Sand der Sterne trocknet dereinst alle Tränen
In kühlen Rosen fallen wir aufs Gesicht
1930
Aus: František Halas: Der Hahn verscheucht die Finsternis. Nachgedichtet von Franz Fühmann. (Weiße Lyrikreihe). Berlin: Volk und Welt, 1970, S. 15.
*) Original nejsouc, „nicht seiend“ = wenn es nicht ist (wenn das Kücken nicht bei den Seinen ist). Fühmann greift hier offenbar zu einer kühnen Neubildung, um die grammatisch-semantische Struktur des Tschechischen nachzuahmen, während Demetz das Detail weglässt. Ich muss bei der Stelle an Roman Jakobson denken, der in seiner Prager Zeit darüber nachdenkt, warum tschechische Nachdichtungen Puschkins nicht so stark klingen wie die Originale, und die Ursache in den Unterschieden zwischen russischer und tschechischer Grammatik sieht, und an eine Formulierung, die Walter Benjamin zitiert: es gehe beim Übersetzen nicht darum, das Chinesische zu verdeutschen, sondern das Deutsche zu verchinesischen.
Aus der Tiefe
[Dem Maler] Styrsky gewidmet
In Lügen brennend lieb ich diese Welt
von Gott erleuchtet Höllendreck
in Liebe zornig lieb ich diese Welt
Wimmelnd der Abschaum in den Kellerräumen
von ihrem Grunde siehst du selbst bei Tag
was du zu sehen fürchtetest in Träumen
Im schwarzen Luftzug zwischen Schoß und Tod
erkaltet unterm Friedhofskalk lunar
da pflückst du goldene Tressen das würgende Frührot
Dann Wehmut hier die ohne Ziele schweift
dich rührt nur mehr das fernste Kücken der Plejaden
das piepst wie es das Leere greift
Mein Herz warum dein Hahnenstolz
der Sternensand der trocknet alle Tränen
in kühle Rosen stürzen wir aufs Angesicht
Aus: František Halas: Poesie, tschechisch deutsch. Übertragung und Nachwort Peter Demetz. (Reihe Poesie. Texte in zwei Sprachen, hrsg. Hans Magnus Enzensberger). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965, S. 25.
Ze dna
Štyrskému
S horoucí falší miluji tento svět
bohem rozsvícený dáblem znečištený
s hněvivou láskou miluji tento svět
Dno hladomorny plné havěti
z jejíhož dna i ve dne vidíš
vše co v snách se bojíš viděti
V průvanu tmy mezi narozením a smrtí
stydna pod hřbitovním vápnem měsíčním
trháš zlaté tkanice rozbřesků co škrtí
Pak lítost jež k ničemu zde se již neupíná
jen nad posledním Kuřátkem v Plejadách je ti do pláče
co pípá nejsouc mezi svýma
Proč kohoutíš se srdce mé
písek hvězd slzy všech vysuší
do chladných růží na tvář padneme
Ebd. S. 24
Automatische Übersetzung von DEEPL:
Von unten
An Styrsky
Ich liebe diese Welt mit einer brennenden Falschheit
angezündet von Gott und verunreinigt vom Teufel
Mit wütender Liebe liebe ich diese Welt
Am Boden der Hungerkammer voller Ungeziefer
Von dessen Boden du bei Tag sehen kannst
Alles, was du in deinen Träumen zu sehen fürchtest
Im Luftzug der Dunkelheit zwischen Geburt und Tod
Scham unter der Friedhofskalk des Mondes
Du zerreißt die goldenen Schnüre der Dämmerung, die stranguliert
Dann das Bedauern, das hier an nichts mehr haftet
Nur für das letzte Huhn in den Plejaden ist dir zum Weinen zumute
♪ Das piepst, wenn es nicht unter den Seinen ist ♪
♪ Why dost thou cock my heart ♪ **
♪ Der Sand der Sterne trocknet jedermanns Tränen ♪
♪ In die kalten Rosen fallen wir auf unsere Gesichter ♪
Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version)
**) Welche Bedeutung die Notenzeichen haben und warum Deepl diese Stelle ins Englische übersetzt, weiß ich nicht. Als ich die drittletzte Zeile einzeln eingab, erhielt ich: Warum spannst du mein Herz an? Meine Einschätzung: der KI-Übersetzung kann man nicht alles glauben und es geht gerade bei Lyrik nicht ohne Missverständnisse, aber sie hilft an manchen Stellen, den Wortsinn des Originals zu verstehen.
Der Dichterkomponist Peter Cornelius, von dem im Jahr seines 200. Geburts- und 150. Todestages bisher noch nicht so viel die Rede war, schrieb Text und Musik von Liedern und Opern. Hier eine feine Persiflage auf einen vielredenden, den Fürsten und – wenns sonst keiner tut – sich selbst lobenden und die Konkurrenz schmähenden Dichter, nein Gesamtkünstler, aus der Oper „Der Barbier von Bagdad“.
Peter Cornelius
(* 24. Dezember 1824 in Mainz; † 26. Oktober 1874 ebenda)
Fünfter Auftritt
Nureddin. Abul Hassan Ali Ebn Bekar.
ABUL verbeugt sich.
NUREDDIN kehrt ihm noch den Rücken.
ABUL verbeugt sich wieder und räuspert sich laut.
NUREDDIN bemerkt ihn immer noch nicht.
ABUL nähert sich Nureddin und klopft ihn auf die Schulter; als dieser
sich umwendet und ihn bemerkt, macht Abul nochmals eine tiefe Verbeugung.
Nureddin erwidert mit Kopfnicken seinen Gruß und gibt ihm einen Wink,
sein Werk zu beginnen.
ABUL.
Mein Sohn, sei Allahs Frieden hier
Auf Erden stets beschieden dir.
Heil dir, du Krankgewesener,
Du glücklich Neugenesener,
Du Übelüberwindender,
Dich wieder Wohlbefindender,
Dem Tode froh Entschlüpfender,
Durchs Leben rüstig Hüpfender,
Du jüngst noch Heiltrank Schlürfender,
Nun meiner Kunst Bedürfender,
Schwer unter Haarlast Ächzender,
Nach meinem Messer Lechzender!
Setzt sich nieder.
Ich komm' in aller Eiligkeit
Und wünsche dir Gedeihlichkeit,
Gesundheit, Glück und Überfluß
Und langer Jahre Hochgenuß,
Dir blühe stets –
NUREDDIN.
Ich danke dir! Nur sei recht eilig!
Mich ruft ein dringendes Geschäft. Mach' schnell!
ABUL.
Ich habe dir dein Horoskop gestellt;
Vernimm durch mich den Spruch der Sternenwelt:
Du hast gewählt die beste Zeit auf Erden,
Die man nur wählen kann, rasiert zu werden.
Er zeigt Nureddin das Horoskop.
Nureddin macht eine abwehrende Handbewegung.
Dies Spiel wiederholt sich noch zweimal.
Abul verfolgt Nureddin damit.
Nureddin wird ungeduldig und weist ihn gebieterisch ab.
ABUL zuckt die Achseln.
Mars und Merkur
Schauen auf dich,
Wag' es drum nur,
Baue auf mich;
Doch droht Gefahr
Von goldner Schar!
Sei auf der Hut
Vor Sonnenglut!
Wenn Venus lacht,
Nimm dich in acht!
Geh' nicht hinaus!
Bleib' fein zu Haus!
NUREDDIN.
Was kümmern die Sterne dich nur?
Mach schnell!
Danach frage ich nicht,
Beginne sogleich deine Schur, Gesell!
Eilig tu' deine Pflicht.
Fasle nicht weiter von der Sterne Schar,
Was du da schwatzest, ist ja doch nicht wahr.
Lasse das! Dämme deiner Worte hohe Flut,
Zu vieles Reden ist nicht gut.
Nicht so lang bedacht,
Schnell voran gemacht,
Eilig packe aus,
Sonst werf' ich dich zur Tür hinaus!
Sogleich ans Werk, sonst geh hinaus!
ABUL.
Im Hause alles magst du heute wagen,
Doch bleib' zu Haus, sonst geht dir's an den Kragen.
NUREDDIN.
Nicht will ich Rat von dir und Prophezeiung
Dein Werk vollende schnell und weiter nichts.
Drum kein Geschwätz – sonst ruf' ich einen andern.
Für sich.
Margiana, o Margiana, du mein Alles!
ABUL.
O wüßtest du, Verehrter,
Was ich für ein Gelehrter,
Du wärst erstaunt darob
Und sprächest nicht so grob.
So höre denn, du Tröpfchen,
Du ungeschornes Köpfchen,
Was ich für ein Barbier,
Und freue dich mit mir.
Bin Akademiker
Doktor und Chemiker,
Bin Mathematiker
Und Arithmetiker,
Bin auch Grammatiker,
Sowie Ästhetiker,
Ferner Rhetoriker,
Großer Historiker,
Astrolog, Philolog,
Physiker, Geolog,
Geograph, Korograph,
Topograph, Kosmograph,
Linguist und Jurist
Und Tourist und Purist.
Maler und Plastiker,
Fechter, Gymnastiker.
NUREDDIN.
Margiana, o Margiana, du mein Alles!
ABUL.
Tänzer und Mimiker,
Dichter und Musiker,
Großer Dramatiker,
Epigrammatiker,
Scharfer Satiriker,
Epiker, Lyriker,
Dabei ein Sokrates
Und Aristoteles.
Bin Dialektiker,
Sophist, Eklektiker,
Zyniker, Ethiker,
Peripathetiker.
Bin ein athletisches,
Tief theoretisches,
Musterhaft praktisches,
Autodidaktisches
Gesamtgenie,
Ja, ein Gesamtgenie!
NUREDDIN mit Humor.
Nun sag' einmal, du unverschämter Schwätzer,
Wann endest du? Und wann beginnest du?
ABUL.
O wie du mich verkennest,
Daß du mich Schwätzer nennest!
Ja, meine Brüder selig,
Die schwatzten unausstehlich.
Unausstehlich!
Bakbak, der Einäugige,
Bakbarah, der Dickbäuchige,
Alkuz, der Vielbräuchige,
Alnaschar, der Weinschläuchige,
Bukbuk, der Spatzenscheuchige,
Schakkabak, der Hustenkeuchige;
Doch ich, der jüngste der Familie,
Bin still und unschuldvoll wie eine Lilie.
NUREDDIN geht außer sich vor Ungeduld erst einige Schritte durch das Zimmer,
dann faßt er einen Entschluß, geht zur Tür, reißt sie auf und ruft seinen Dienern.
He! Ali, Sadi, Abbas, Achmet,
Zofar, Omar, Dschafar, Jezid,
Salem, Hussein, Mustein, Kajem,
Riza, Jusuff, Motawackel!
Werft ihn hinaus!
Quelle: http://www.zeno.org/Literatur/M/Cornelius,+Peter/Libretto/Der+Barbier+von+Bagdad/1.+Akt/5.+Auftritt
Peter Rühmkorf
(* 25. Oktober 1929 in Dortmund; † 8. Juni 2008 in Roseburg im Kreis Herzogtum Lauenburg, Schleswig-Holstein)
Kommt gebt mir was zu fressen!
Kommt gebt mir was zu fressen!
Ich bin der erste große deutsche Nachkriegsdichter;
Nur fehlt mir Fett und Eiweiß.
Ich habe keine Lust
Als Frühvollendeter schon zu krepieren,
Und noch ist was zu machen.
Hier gibt's was zu verdienen:
Ich gebe Aktien aus auf meine Lyrik;
Kommt, laßt uns meine Seelenqualen abbaun!
Ich werde später Geld
Aus meinen grausigen Visionen schlagen –
Kommt, gebt mir was zu fressen, ich hab Hunger!
Entstanden 1948, Erstdruck 1962. Aus: Peter Rühmkorf: Gedichte (Werke I). Hrsg. Bernd Rauschenbach. Reinbek: Rowohlt, 2000, S. 23
Das gerade erschienene Heft 58 der famosen Reihe Versensporn versammelt sämtliche bisher aufgefundenen Gedichte von Walter Serner. Das hier vorgelegte Gedicht ist ein Gemeinschaftswerk mit Hans Arp und Tristan Tzara (das Trio als „anonyme Gesellschaft zur Ausbeutung des dadaistischen Vokabulars“).
Der serbische Olymp oder
der schlecht ermordete Detektiv
kerze schämt sich auf dem alpenkamm
herzen brechen gong kanal und lamm
platon holt noch mit dem kirchturm aus
blatt und ei und regen singen rund
fastenfauna glänzt im toten fisch
dotterblau bestirnt der glast die laus
bärtig wachsen psalmen in den mund
und die loreley hält stundentisch
glastramway ist meteor und handschuh
für verliebte welche im juli die
ressentiments und andere monopolbarometeraffekte
als saldovortrag zu seinen gunsten buchen
Aus: VERSENSPORN Heft für lyrische Reize Nr. 58: Walter Serner. Jena: Edition Poesie schmeckt gut, 2024, S. 12. Broschur, Klammerheftung, 28 Seiten Umschlagmotiv: Francis Picabia Erste Auflage 2024: 130 Exemplare Preis: 4,00 €
Max Sessner
Eines Morgens
Wie spät ist es eigentlich sind
die Kriege schon aus oder
beginnen sie erst ich schneide
mir die Fingernägel im
Badezimmer frage mich wie viel
Zeit mir noch bleibt und was
danach kommt möglicherweise
nichts meine abgeschnittenen
Nägel versammeln sich im
Waschbecken was wissen sie
was ich nicht weiß sie
sehen bedeutend aus auf dem
weißen Emaille als ruhten
sie aus und hätten die Wahl
zwischen Abfluss und Ewigkeit
Aus: manuskripte 245/2024, S. 97
Max Sessner, geb. 1959 in Fürth/Bayern, lebt in Augsburg. 2019 erhielt er den österreichischen Rotahorn-Literaturpreis.
Simone Scharbert
OHNE VERORTUNG
DIENSTAG, 17.3.2022
(4) die tauben gibt es;
die träumer, die puppen
die töter gibt es; die tauben, die tauben
(Inger Christensen, alphabet)
aprikosenbäume die gibt es
über vieles lässt sich gerade schwer schreiben
nichts Neues; kaputte Natur
an den Rändern meines Körpers
meines Verstands lose Abbruchkanten
unruhiges Innenwandern
hin und wieder bleibe ich stehen
greife nach einem Geländer einem Halt
blicke ins eigene Dunkel im Jetzt
schweigendes Bildgeröll
Lichtschalter für Körper gibt es wohl nicht
Aus: Simone Scharbert: Wie es auch ist. Fund- & Flutstücke. Lyrik-Edition Rheinland. Düsseldorf: Edition Virgines, 2022. (Literaturbüro NRW), S. 31
Mary Oliver
(* 10. September 1935 in Maple Heights, Ohio; † 17. Januar 2019 in Hobe Sound, Florida)
Dieses kleine Biest
Dieses hübsche kleine Biest, das Gedicht,
es hat seinen eigenen Kopf.
Mal will ich, dass es nach Äpfeln giert,
es möchte aber rotes Fleisch.
Mal will ich friedlich dahinwandern
an einem Strand,
doch es will alle Kleider ausziehen
und in die Wellen tauchen.
Mal will ich schlichte Worte benutzen
und ihnen Bedeutung geben,
aber es ruft sofort nach dem Wörterbuch,
den Möglichkeiten.
Mal will ich resümieren und Danke sagen,
um Dinge in Ordnung zu bringen,
und es fängt an, im Zimmer umherzutanzen
auf allen vier Pelzbeinen, es lacht
und nennt mich unverschämt.
Doch manchmal, wenn ich an dich denke
und dabei zweifellos lächele,
sitzt es ruhig da, eine Pfote unterm Kinn,
und hört einfach nur zu.
Übersetzt von Jürgen Brôcan, aus: Mary Oliver: Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben. Gesammelte Gedichte. Zürich: Diogenes, 2023, S. 34
That Little Beast
That pretty little beast, the soul,
has a mind of its own.
Sometimes I want it to crave apples
but it wants red meat.
Sometimes I want to walk peacefully
on the shore
and it wants to take off all its clothes
and dive in.
Sometimes I want to use small words
and make them important
and it starts shouting the dictionary,
the opportunities.
Sometimes I want to sum up and give thanks,
putting things in order
and it starts dancing around the room
on its four furry legs, laughing and calling me outrageous.
But sometimes, when I'm thinking about you,
and no doubt smiling,
it sits down quietly, one paw under its chin,
and just listens.
Àxel Sanjosé
Drei Übersetzungsversuche einer hesperischen Inschrift
[a]
Hier sterben selbst die Steine,
hier ist keine Bleibe mehr.
[b]
Diese Steine zeigen den Tod an,
sind selber ein Teil davon.
[c]
Gebrochener [Bruchteil aus] Stein/Fels
Leere Menge an Wachstum/Veränderung
Aus: Jahrbuch der Lyrik 2023/24. Herausgegeben von Matthias Kniep und Karin Fellner. Frankfurt am Main: Schöffling, 2024, S. 212
Henri Michaux
(* 24. Mai 1899 in Namur, Belgien; † 19. Oktober 1984 in Paris)
Übersetzung
Ich witzle und wölze mich
Im Grunde entliste ich mich
Nichts hält stand; ich kann noch so hinblicken
Es erfahlt sich und reiht sich
Clermont meldet sich und Ferrand antwortet
Blöde zufriedene Straßen, das wird noch was
Aber die Neidhammel und idem die Krümmler sollen sich ruhig
isolieren
Laß sie doch schwadrusten, die herben Derben
Ich kehre zurück zum Wasser des Ozeans. Adieu
Ich habe das Plätschockeln der Ozeandampfer gehört, ich gehe
an Bord
Doch, alte Gewohnheit, ich bin dort nicht viel; doch ich habe
in meinen Fingern die Weise von zwölf Matrosenknoten, und
backbord steuerbord mache ich gern mit den Beinen
Bei sehr schlechtem Wetter klammere ich mich an den
großen Kahlen und presse mein Ohr an ihn, da gibt's allerlei
Geräusche; zwischen zwei Böen sehe ich die Düner mit ihren
Klinkerkämmen näherkommen
Und manchmal wird dieses wilde Wasser so still und wie im
Todeskampf, man fühlt sich zutiefst glücklich
Kaum kräuselt es sich mit einigen Falten und Runzeln
Wie das was hält und krulichtet unter dem Auge eines alten Weibs.
Aus dem Französischen von Dieter Hornig, aus: Henri Michaux: Wer ich war. Frühe Schriften. Graz, Wien: Droschl, 2006, S. 138f.
Claudia di Palma
Ich schreibe, um es nicht gehen zu lassen,
das Vergängliche, um das Ewige zu bewachen,
das oft von allen Dingen
das Schwächste ist. Und es stirbt nicht.
Deshalb schreibe ich:
weil ich vergänglich bin und die Vergänglichkeit
ist das einzige Heilmittel, das ich besitze,
in der Weite deiner Horizonte.
Tag für Tag schreibe ich,
um Medizin zu sein und Hilfe
für zerbrechliche Dinge, wie den Horizont
und die Unsterblichkeit dessen, was ist.
(aus: Altissima miseria, Musicaos Editore, 2016) Aus dem Italienischen von Silvana Cimenti. In: manuskripte. Zeitschrift für Literatur 245/2024, S. 137
CLAUDIA DI PALMA, geb. 1985 in Maglie, lebt und arbeitet in Lecce. Zusammenarbeit mit dem „Astràga-li Teatro“ und dem „Asfalto Teatro“. 2016 veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband Altissima miseria (Musicaos Editore), für den sie zahlreiche Preise erhielt. 2021 erschien Atti di nascita (Minerva Edizio-ni). Ihre Gedichte wurden ins Englische und Spanische übersetzt. Sie ist Mitglied der Redaktion des Literaturblogs „Poets Today“.
Stan Lafleur
(* 16. Februar 1968 in Karlsruhe)
Letzte Worte
das Gefälle zwischen den Generationen ist derart hoch
daß sich mit einer heute Dreihundertjährigen
für mich kaum Gesprächsstoff böte
geschweige denn für sie
wir wüßten Welten und taxierten uns wie Soldaten
der Sprachwandel stünde zwischen uns
Marsroboter, Smartfones, die Psychologie
meine Abschiedsworte
handelten vielleicht davon daß es nur einen Schlag gibt
der noch ergriffener ist von sich selbst
als diese uralte Frau und ich:
die Dichter in Berlin
Aus: Stan Lafleur: Mini Welt. Ausgewählte Gedichte. Hrsg. Michael Serrer und Adrian Kasnitz. Düsseldorf: Edition Virgines, 2017 (Lyrik-Edition Rheinland), S. 32
Elfriede Gerstl
(* 16. Juni 1932 in Wien; † 9. April 2009 ebenda)
frau sisyphus
waschecht und flexibel
robust wie ein reibfetzen
konstant
in der permanenz ihrer nützlichkeit
ich lobe die niegelobte
in anerkennung
ihrer aufopfernden blödheit
als abschreckbild
für töchter und enkelinnen
Aus: Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache. Im Auftrag der Wüstenrot Stiftung herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Anna Bers. Stuttgart: Reclam, 2020, S. 635
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