Gern präsentiere ich einen Text von Konstantin Ames als Nachtrag zum 90. Geburtstag von Renate Rasp (*3. Januar 1935 in Berlin; † 21. Juli 2015 in München)
„Er ist fünfundvierzig.“ Seelisches Schreiben von Renate Rasp zu ihrem 90.
Die Diktion hier könnte so oder so ähnlich auch im ÖPNV zu hören sein. Wer gewohnt ist, solche sozialen Nahbegegnungen konsequent zu meiden, sollte sich eines besseren besinnen.
Leute, die mit dem Kopf schreiben, zu bewundern, ist gar nicht schwer. All die Akrobatik. Die Nasenlöcher, die ihre Kegels und Rümpfbeugen gemacht haben müssen. Die damit Fliegenklatschen schwingen wie andere Baseballschläger. Ich schreibe, für einige unbegreiflich, mit den Händen, die sind also immer wach. Das gilt nun nicht viel. Es galt aber einmal halb so wenig. Als ich 2004 von der Ostsee bei Greifswald weg musste, landete ich in Leipzig. Leipzig hat viele Nachteile, von denen nicht wenige die gleichen Namen tragen wie einige blasierte Autorinnen und -toren; Leipzig hatte aber auch Antiquariate. Dort fiel mir, auf der Suche nach wirklich unpraktischen Existenzzulagen, ein Gedichtband der mir damals noch unbekannten – weil in Vergessenheit geratenen – Renate Rasp († 2015) in die Hände, Titel: „Eine Rennstrecke“. Darin findet sich auf Seite 17 ein Poem mit dem spröden Titel „Kultur“. Damals konnte ich Enzensbergers „Die Scheiße“ noch auswendig, so war die Eröffnung von „Kultur“ („Bevor er/ zum Scheißen geht“) kein Hindernis; überhaupt nicht primitiv oder reaktiv oder was ein zartes Seelchen sonst ankotzen könnte. Meist brauchz zur benevolenten Lektüre ja eh bloß ein wenig Bildung mehr als zunächst gedacht. Die für sich natürlich auch wieder nicht reicht; nicht einmal die vielbeschworene beschissene Kindheit tuz da, es braucht auch das Sensorium (Talent) für diese eine verstörende existenzielle Erfahrung, komplett infrage zu stehen, aus den Angeln gehoben zu werden. Sonst verkackt es sich allzu leicht. Beim Leben. Beim Lesen. Beim Ausdünsten. Beim Kunsten. Man kann dann trotzdem eine Zeitlang interessant, und auch mal eine Saison im Fokus, sogar Teil oder Anbau der Fokusgruppe sein, bleibt dabei aber ein privilegienblinder Dutzendmensch und auchn bisschen ein dröger Antiquitätenfuzzi. Wer nicht verkappt ehrgeizig und akademiegängig drauf ist, fängt sich schnell eine Fliegenklatsche, weil er eine „Ättitjud“ hat. Man nennt ihn – liberal-sozialistisch wie man nun einmal ist – „Nerd“, „Ästhetizist“ oder „Kleinunternehmer“. (…) Irgendwas muss schließlich hängen bleiben. Gilt es doch, eine mindestens gefühlte, wenn schon nicht ausgesprochene, Leitkultur zu verteidigen. Und jetzt endlich Text!
Kultur
Bevor er
zum Scheißen geht
stellt er das Radio
auf eine bestimmte Lautstärke
oder legt Bob Dylan auf.
Aber ich höre ihn trotzdem
sehe wie es sich
dunkelbraun
aus seinem Arsch
herausdrückt.
Ich sehe es liegen
in dem weißen Becken
von der Brille ein-
gerahmt und mir fallen
viele Dinge ein die
so ähnlich sind.
Er ist fünfundvierzig.
Im Schmetterlingsstil
schwimmt er durch seinen
eigenen Mist von klein auf.
Das ganze Zimmer ist voll.
Um die Platte abzustellen
müßte er
tauchen können.
Ich werde den Teufel tun, über meine eigenen Meeresgrund-Erfahrungen zu berichten. Aber einige dieser Erfahrungen – weil man sie selbst so oder so ähnlich hatte, erkennt man sie – finden sich im Buch der abartigen Weisheiten, das Renate Rasp mit ihrem Fimmel für Homewrecking, Schaftstiefel, Splatter in ein programmatisch überforderndes Buch gepackt hat, dem der Titel „Eine Rennstrecke“ nicht recht ansteht. Das hat womöglich aber der Verlag versaubeutelt. Das titelgebende Gedicht im Buch ist gleichsam der einzige Streichkandidat, erkennbar an einem Schlusssatz wie diesem: „Jeder soll selbst sehn!“ Jenau. Rasps Gedichtdebüt versammelt aber auch einige drastische und zugleich emotional absolut sichere Gedichte: „Jack the Ripper“ (S. 12), „Rest“ (S. 54), „Bildnis“ (S. 60), zugleich das Schlussgedicht. Und eben „Kultur“. Gibt Gerüchte, dass es sich bei diesem Epigramm um eine übelriechende Note an einen seinerzeit umstrittenen Literaturmoderator handelt. Der so denkbar abschätzig Angeredete muss Jahrgang 1933 oder 1934 sein, zieht man vom Erscheinungsjahr (1969) das genannte Alter („fünfundvierzig“) ab; der Herstellungsprozess des Buches will bedacht sein; Erscheinungsjahr heißt nicht Entstehungsjahr. Nun, ich gebe nichts weiter auf den Gossip, sondern beziehe den galligen Spott – weil ich unmöglich gemeint sein kann – noch einmal, so wie in den 2000er Jahren, probeweise auf mich, der gerade selbst beschissene 45 Jahre alt ist. Hm. Aha. Ich mag immer noch, und mehr denn je, Texte, die mich – aber bitte nicht unter Niveau – angehen. Das sind Texte, die mir maximale Ironiefähigkeit zugestehen, die nicht mein Einverständnis wollen, sondern mich zu einer Positionsbestimmung anhalten. Pathos lässt sich nicht konstellieren; und nur falsches Pathos lässt sich zerdeppern. Seelischem Schreiben, im Gegensatz zum Interessantismus des Kreativen bzw. Professionellen bzw. Literarischen und dann Preistragenden Schreibens, kann kein noch so umtriebiger Zehnminuten-Poetiker etwas anhaben … „Kultur“ von Renate Rasp, 1979 vom bundesrepublikanischen Feuilletonrudel (m) gerufmordet, ist Seelisches Schreiben. Sie hätte im Jahr 2011 ein Comeback feiern können. Aber es hätten wohl nicht Männer, die sie hasste, sein dürfen, die ihr die Tür zur Betriebshalle aufhalten. Auch und gerade zur mangelnden Solidarität unter Frauen hat die Rasp sehr deutliche Worte gefunden. Aus guten Gründen. Im Gespräch mit einer Kollegin, die nur um ein weniges jünger ist als die 1935 in Berlin geborene Renate Rasp, habe ich über deren Werk und Haltung ein Maß an Missgunst, Ablehnung und Nicht-Verstehen-Wollen erfahren, das traurig stimmte. Ich empfand die Rasp zwar als äußerst barsch im Umgang, halte aber dafür, dass Frauen auf schlechtes Benehmen gleiche Rechte haben wie Männer. Im persönlichen Umgang anstrengend sein dürfen, ohne dafür als Künstlerin (hier wie immer: w/d/m) verurteilt zu werden, das erwarte ich von einer Kollegenschaft, sofern professionell. Die Trennung von Werk und Künstler aufzugeben, braucht es schon sehr gute Gründe und Anhaltspunkte: Verrat, Narzissmus und andere allgemeine Menschenfeindlichkeit, Kapitalverbrechen.
Gegenprobe: Als eine hochgeschätzte Kollegin mir recht öffentlich ein Gedicht von Rasp um die Ohren haute, war das vitalisierend. Gruppierte, in diesem Fall die AG Trauma a.k.a. Gruppe 47, fühlten sich von Rasps Schreibart ›an die Wand geschrieben‹. So zu lesen im weitgehend überarbeitungswürdigen Biogramm (KLG). Warum denn nicht gleich an die Wand gestellt? Dabei ergehen von diesen Texten doch bloß Herausforderungen zum Duell. Die Duellsituation ist aber auch so eine Erfahrung, die vielen urbanen Großschnäuzchen komplett abgeht. Lieber f ü h l t man sich gemeint, und ist tödlich beleidigt; ganz schön bürgerkinddichterlich. Puh. Schnell und abschließend ein Wort zur Auswahl: Ich hätte auch einen der drei o.g. Texte auswählen können, aber „Kultur“ passt auf die bange Stimmung angesichts der neowilhelminischen Zuständen im heutigen Gerne-Aber-Nicht-Mehr-Lange-Groß-Berlin wie Arsch auf Eimer. Jetzt haben wir die Cultur, kompetitiv wie eh und je, aber dafür stilvoll und gefühlsecht wie Oktopussalat.

Heute zeigt der Kalender gleich mehrere runde Gedenktage. Heute vor 750 Jahren, 1275, starb der Minnesänger Ulrich von Liechtenstein, und noch 75 Jahre früher, heute vor 825 Jahren, 1200, wurde Dōgen geboren, der ein japanischer Zen-Meister und Dichter wurde. Hinzu kommen noch zwei Dichter aus verschiedenen Weltgegenden, die am selben Tag heute vor 300 Jahren gestorben sind. Johann Christoph(er) Jauch, deutscher Theologe und Dichter, der wohl wichtigste Textdichter Johann Sebastian Bachs (der Name Jauch trügt nicht, von einem seiner Brüder stammt der Fernsehhost Günter Jauch ab), und Sulchan-Saba Orbeliani, georgischer Mönch, Politiker und Dichter. Ich entscheide mich für den ältesten dieser vier Dichter, Dōgen.
Der japanische Autor Yasunari Kawabata stellte eins seiner Gedichte zusammen mit einigen anderen an den Anfang seiner Nobelpreisrede im Jahr 1968 in Stockholm. Daraus diese Ausschnitte. Am Schluss eine andere Übersetzung des ersten Gedichts mit dem Original.
„Im Frühling Kirschblüten, im Sommer der Kuckuck.
Im Herbst der Mond und im Winter der Schnee, klar, kalt.“
„Der Wintermond kommt aus den Wolken, um mir Gesellschaft zu leisten.
Der Wind ist durchdringend, der Schnee ist kalt.“
Das erste dieser Gedichte stammt vom Priester Dogen (1200-1253) und trägt den Titel „Angeborener Geist“. Das zweite ist vom Priester Myoe (1173-1232). Wenn ich nach Beispielen für Kalligraphie gefragt werde, wähle ich oft diese Gedichte.
Das zweite Gedicht enthält eine ungewöhnlich detaillierte Beschreibung seiner Ursprünge, die eine Erklärung seiner eigentlichen Bedeutung darstellt: „In der Nacht des zwölften Tages des zwölften Monats des Jahres 1224 war der Mond hinter Wolken. Ich saß in der Kakyu-Halle in Zen-Meditation. Als die Stunde der Mitternachtswache kam, beendete ich die Meditation und stieg von der Halle auf dem Gipfel in die unteren Viertel hinab, und als ich das tat, kam der Mond aus den Wolken und ließ den Schnee glühen. Der Mond war mein Begleiter, und nicht einmal das Wolfsgeheul im Tal machte mir Angst. Als ich bald darauf wieder aus den unteren Vierteln herauskam, war der Mond wieder hinter Wolken. Als die Glocke die Nachtwache signalisierte, machte ich mich noch einmal auf den Weg zum Gipfel, und der Mond sah mich auf dem Weg. Ich betrat die Meditationshalle, und der Mond, der die Wolken jagte, war im Begriff, hinter dem Gipfel dahinter zu versinken, und es schien mir, als würde er mir heimlich Gesellschaft leisten.“
(…) Hier ist die Szene für ein weiteres Gedicht, nachdem Myoe den Rest der Nacht in der Meditationshalle verbracht hatte oder vielleicht vor Tagesanbruch noch einmal dorthin gegangen war:
„Als ich meine Augen von meinen Meditationen öffnete, sah ich den Mond in der Morgendämmerung das Fenster erhellen. An einem dunklen Ort fühlte ich mich, als ob mein eigenes Herz in einem Licht erglühte, das das des Mondes zu sein schien:
‚Mein Herz leuchtet, eine reine Lichtfläche;
Und ohne Zweifel wird der Mond das Licht für sein eigenes halten.‘“
Wegen einer so spontanen und unschuldigen Aneinanderreihung bloßer Ausrufe wie der folgenden wurde Myoe der Dichter des Mondes genannt:
„Hell, hell und hell, hell, hell und hell, hell.
Hell und hell, hell und hell, hell, heller Mond.“
(…) Man kann, wenn man will, in Dogens Gedicht die Schönheit der vier Jahreszeiten nur als eine konventionelle, gewöhnliche, mittelmäßige Aneinanderreihung repräsentativer Bilder der vier Jahreszeiten in einer höchst ungeschickten Form sehen. Man kann es als ein Gedicht sehen, das eigentlich gar kein Gedicht ist. Und doch ist das Sterbegedicht des Priesters Ryokan (1758-1831) sehr ähnlich:
„Was soll mein Vermächtnis sein? Die Blüten des Frühlings,
Der Kuckuck in den Hügeln, die Blätter des Herbstes.“
In diesem Gedicht, wie auch in dem von Dogen, werden die alltäglichsten Figuren und Worte ohne Zögern aneinandergereiht – – – nein, eher mit besonderer Wirkung – – – und so vermitteln sie das wahre Wesen Japans.
Quelle: https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1968/kawabata/lecture/
Im Frühling Kirschblüten
im Sommer der Ruf des Kuckucks
im Herbst der Vollmond
im Winter kalter Glanz des Schnees:
erquickende Reinheit!
Haru wa hana / natsu hototogisu / aki wa tsuki /
fuyu yuki saete / suzushikarikeri
Vorspann: Honrai menmoku – ›ursprüngliches Gesicht, ursprünglicher Anblick‹.
Gehört zu einer Reihe von Waka, die im Auftrag des Machthabers Hojo Tokiyori, entstand, als Dōgen 1247 in der Stellung eines geistlichen Präzeptors in Kamakura weilte. Der Vorspann deutet an, dass die klassischen Jahreszeiten-Motive hier als Metaphern auf etwas über die Erscheinungen Hinausgehendes, Wesenhaftes im Sinne des Zen-Buddhismus hinweisen sollen.

Aus: Gäbe es keine Kirschblüten… Tanka aus 1300 Jahren. Japanisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Yukitsuna Sasaki, Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Feller. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2009, S. 94f
Man kennt Paul Pörtner vor allem von seinem Einsatz für das Wiederentdecken expressionistischer Literatur nach dem letzten Krieg sowie von einigen Übersetzungen. Er hat auch Gedichtbände veröffentlicht, die vergessen wären, wenn nicht – die Musik eingesprungen wäre. Der Komponist Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) veröffentlichte 1961 „Présence, ballet blanc für Klaviertrio und stummen Darsteller“, das auf Texte von Cervantes, James Joyce, Alfred Jarry und Paul Pörtner rekurriert:
Bei der Komposition von Présence handelte es sich ursprünglich um den Auftrag für ein Klaviertrio, der vom Hessischen Rundfunk und Hans-Wilhelm Kulenkampff ausging. Doch schon bald verwandelte und erweiterte Zimmermann das im Entstehen begriffene Werk in ein die Grenzen der Gattung sprengendes Stück, dem er eine szenische Dimension einkomponierte. Er verband die Musik mit im Einzelnen analytisch kaum zu entschlüsselnden szenischen und literarischen Verweisen, um ein abstraktes Ballett zu ermöglichen – ein musikalisch-choreographisches Spiel, das die Phantasie anregt. (Zugleich durchbricht er die traditionelle Vorstellung des homogenen, in sich geschlossenen Werks.)
In dieses Werk (das seither regelmäßig aufgeführt wird) hinein rettet der Komponist die vergessenen Verse von Paul Pörtner. Zum 100. Geburtstag, der heute in Wuppertal mit einem Kolloquium gefeiert wird (bei dem auch die Lyrikerin Mara Genschel auftritt), bringe ich hier eine weitere kurze Passage über Zimmermanns Komposition und darunter die dort verwendeten Kurzgedichte von Pörtner. In der Pdf (Quellenangabe unten) gibt es mehr Informationen und auch zwei Seiten aus den Noten. In dem eingebetteten Video einer Aufführung in Reykjavík kann man die Noten mitlesen, darin sind auch die Texte notiert (die Sprungmarken unter dem Video führen direkt zu den Szenenanfängen mit Pörtners Text). Neue Musik und Neue Poesie.
Bei den literarischen Motti, die Zimmermann den fünf Szenen voranstellte, handelt es sich um Kurzgedichte von Paul Pörtner aus dem Lyrikband »Schattensteine« (1958). Pörtner, der aus Wuppertal stammte, war nicht nur Übersetzer der Stücke von Alfred Jarry, sondern auch Autor und Theoretiker des experimentellen Theaters.
»Die Wortembleme, Wortsteine: vage Wegweiser in einem Eisfeld – wer vermag zu entscheiden, ob sie nicht ›verstellt‹ sind? – sind die ›Dekoration‹ der imaginären Szene. Paul Pörtner gibt damit Zeichen, welche ihren Kontrapunkt in den Bildtafeln der einzelnen Szenen finden, die der speaker – der stumme ›speaker‹ – vorstellt.« (Zimmermann 1961)
Paul Pörtner
(* 25. Januar 1925 in Elberfeld; † 16. November 1984 in München)
wir jagen das wild
das uns opfert.
die stählernen engel der dinge
holen uns ein.
Alle Wahr-
vögel nisten
in einem
einzigen Baum.
Flutende Lippen
umwogen den Grund ...
unentblätterter Schlaf,
atemloses Versprechen ...
Insel der schwebenden Vögel.
Im unaufhörlichen
tamtam
deiner haare
dreht sich der sarg
der umkehrenden
träume.
Programmheft einer Aufführung bei der Yun-Gesellschaft
Wir gratulieren der Lyrikerin Frederike Frei zum 80. Geburtstag!
Das ausgewählte Gedicht stand in der Zeitschrift Am Erker, # 42. Münster, Dezember 2001.
Frederike Frei
(* 24. Januar 1945 in Brandenburg/Havel)
WO WOHNEN DIE WÖRTER
Wo wohnen die Wörter im
Schlaf in der Stille des
Sturms im ruhig Blut im
unwirschen un in der
Einsilbe Nein, im Nachhall
des Ja, immer im Nimmer, im
Zimmergrau, im Immerblau
im im im Hollerbeersekt.
Warum nicht? Es ist ein
ganz altes Rezept.
Eins im Sinn, alle anderen
immer auf Achse diese
Tippelbrüder. Im Wohnwagen
wagen sie zu wohnen, am
Ende der Welt, am Anfang
der Sätze. Sie drängeln
sich im Off, um gleich
an die Reihe zu kommen,
um einzuziehn schön in
Geschichten, Gedichte,
am liebsten in Märchen
oder sammeln sie sich
als Läuse im Pelz von
Allerleirauh, sitzen auf
toten Frauenlippen im Keller
des Blaubarts hinter der
dreizehnten Tür im tiefen
Teich beim Eisenhans, in
der Löwenhöhle des
Schweigens. Ja, da.
Jesse Thoor
(* 23. Januar 1905, heute vor 120 Jahren, als Peter Karl Höfler in Berlin; † 15. August 1952 in Lienz/Osttirol)
Rufe zur Nacht
Ich, der Dichter Jesse Thoor –
dem Zünglein, Zeh und Ohr
und die Seele fror!
Wenn der März alle Bäche taut,
singe ich wieder laut!
Du meine hohe Braut!
Singe ich dein Herz gesund!
Du meines Sterbens Grund!
Küsse ich deinen Mund!
Aus: Jesse Thoor: Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Hamm. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2004 (2. Aufl., 1. 1975), S. 66
Anna Hoffmann
wie ich es drehe
oder mich
für Thomas
nichts hält das stehende gewässer deiner augen.
blaue lebendfallen. ein eingelöstes echo. wohin schwimmt dein blick?
was willst du jetzt noch heben? wo dämmerung die dünung abstellt,
den strand zuklappt, radiert der wind die letzten segel aus
und legt sich auf die seite, schläft mit dem gesicht zum horizont.
da bin ich. das polierte nackte wasser zerfällt. und wo bist du?
wozu augen aber kein licht? dunkelheit spezialisiert auf das entsorgen der farben.
grünlosigkeit ertasten. blau überschreitet nun den horizont
und das verlorene grau dreht sich der retina zu. jetzt spür ich dich.
soweit scheint alles in ordnung.
Aus: Abwärts! Nr. 53, Dezember 2024, S. 14
Und gleich der nächste 100er. Heute vor 100 Jahren wurde der nikaraguanische Schriftsteller Ernesto Cardenal geboren. Zum Anlass ein Stück aus seinem Canto Cosmico (Kosmischen Gesang). Es ist etwa die Hälfte des 2. Gesangs. Der erste Gesang ist überschrieben: Der Urknall, der zweite: Das Wort.
Ernesto Cardenal
(* 20. Januar 1925 in Granada, Nikaragua; † 1. März 2020 in Managua, Nikaragua)
Canto Cosmico. Kosmischer Gesang
Aus dem ZWEITEN GESANG
Das Wort
Am Anfang
– vor der Raum-Zeit,
war das Wort.
Alles was ist, ist also wahr. Gedicht.
Die Dinge existieren in der Form von Wörtern.
Alles war Nacht, usw.
Es gab weder Sonne noch Mond, noch Menschen, noch Tier, noch
Pflanzen.
War das Wort. (Das Wort der Liebe.)
Geheimnis und gleichzeitig sein Ausdruck.
Das, was ist und gleichzeitig ausdrückt, was es ist:
"Als es am Anfang noch niemanden gab,
schuf er die Worte (naikino)
und gab sie uns, so wie die Yucca-Pflanze",
in jener vergilbten, anonymen Übersetzung aus dem Deutschen
von einem Teil des großen Buches von Presuss,
das ich im ethnographischen Museum von Bogotá fand,
spanische Übersetzung von Presuss, der aus dem Huitoto ins Deutsche
übersetzt:
Das Wort ihrer Gesänge, das er ihnen gab, so sagen sie,
ist das Gleiche, mit dem er den Regen machte
Er ließ es regnen mit seinem Wort und einer Trommel)
die Toten reisen in eine Region, wo "man die Worte gut spricht";
flußabwärts: der Fluß ist sehr groß,
(das, was sie vom Amazonas gehört haben, Presuss zufolge)
dort sind sie nicht aufs Neue gestorben,
sie leben gut abwärts des Flusses, ohne zu sterben.
Der Tag wird kommen, da reisen auch wir flußabwärts.
Am Anfang war also das Wort.
Der, der ist und sagt, was er ist.
Das heißt:
der sich vollkommen ausdrückt.
Geheimnis, das sich gibt. Ein Ja.
Er ist an sich ein Ja.
Enthüllte Wirklichkeit.
Ewige Wirklichkeit, die sich ewig enthüllt.
Am Anfang...
Vor der Raum-Zeit,
bevor ein Davor war,
am Anfang, als es nicht einmal einen Anfang gab,
am Anfang,
da war die Wirklichkeit des Wortes.
Als alles Nacht war, als
alle Wesen noch dunkel waren, bevor sie Wesen wurden,
war es eine Stimme, ein klares Wort,
ein Gesang in der Nacht.
Am Anfang war der Gesang.
Den Kosmos schuf er singend.
Und deshalb singen alle Dinge.
Sie tanzen nur der Worte wegen (durch die die Welt geschaffen wurde),
sagen die Huitoto "Ohne Grund tanzen wir nicht."
Und so wurden die großen Bäume des Waldes geboren,
die Canaguche-Palme mit ihren Früchten, daß wir zu trinken hätten,
und der Choruco-Affe, damit er von den Bäumen frißt,
das Tapir, das die Früchte vom Boden frißt,
das Guara, den Borugo, daß sie den Wald fressen,
er schuf alle Tiere, wie die Nutria, die Fisch frißt,
und auch die Zwerg-Nutria,
er machte alle Tiere wie den Hirsch und den Chonta-Hirsch,
in der Luft den Königsadler, der die Chorucos frißt,
er schuf den Sidyi, den Picón, den Kuyodo-Papageien,
den Eifoke- und den Forebeke-Truthahn, den Bakital, den Chilanga,
den Hokomaike,
den Patilico, den Sarok-Papagei,
den Kuikudyo, den Fuikango, den Siva und den Tudyagi,
die Stinkente, die Mariana, die gelernt hat, Fisch zu fressen,
den Dyivuise, den Siada, den Hirina und die Himegisinyos,
und weiter geht das Huitoto-Gedicht
in der anonymen spanischen Übersetzung von
derjenigen von Presuss aus dem Huitoto ins Deutsche,
die in der Schublade eines Museums liegt.
"Auch wenn sie sagen: Sie tanzen ohne besonderen Grund.
Wir erzählen auf unseren Festen unsere Geschichten."
Welche Presuss vor vielen Jahren geduldig mit einem Grammophon
aufnahm und ins Deutsche übersetzte
Die Toten: Sie sind zurückgekehrt zum Worte, das sie schuf,
aus dem sie mit dem Regen quollen, den Früchten und Gesängen.
"Wenn unsere Bräuche nur absurd wären
dann wären wir traurig bei unseren Festen."
Und der Regen ein Wort aus seinem Mund.
Er schuf die Welt durch einen Traum.
Und er selbst ist so etwas wie ein Traum. Ein Traum, der träumt.
Sie nennen ihn Nainuema, Presuss zufolge:
"Der, der ist (oder hat), was es nicht gibt."
Oder wie ein Traum, der Wirklichkeit wurde, ohne das Geheimnis des
Traumes zu verlieren.
Nainuema: "Der, der etwas sehr Wirkliches ist, das es nicht gibt."
Aus dem Spanischen von Lutz Kliche, aus: Ernesto Cardenal: Wir sind Sternenstaub. Neue Gedichte und Auswahl aus dem Werk. Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 1993, S. 18-20
Wenn man unter Literatur Texte versteht, die man interpretieren kann und muss, dann ist Eugen Gomringer kein Literat, sondern ein Künstler mit Worten. Da ist ein Bild aus Worten. Man muss nicht studiert haben, um damit umzugehen. Man muss nur hinsehen, man kann es beschreiben.
Eugen Gomringer
(* 20. Januar 1925 in Cachuela Esperanza)
alles ruht
einzelnes bewegt sich
bewegt sich einzelnes
alles ruht
ruht alles
einzelnes bewegt sich
bewegt sich einzelnes
ruht alles
alles ruht
einzelnes bewegt sich
Eugen Gomringer
zugegeben, diese konstellation gehört zu meinen weniger bekannten, doch fast ständig mir präsenten gedichten. wie in anderen fällen, die ebenfalls gegenstand dieses bandes und der kommentare sind, ist sie etwas wie alltagslyrik. um nochmals die frage aufzugreifen: «woher der einfall?» ist auf die begegnung mit der realen umgebung zu verweisen. es ist dabei vermutlich der wahrnehmung eines meiner bäume zu verdanken, die meine lieblingsgegenstände zu jeder stunde sind. vor allem ist einer der riesig zu nennenden ahornbäume zu erwähnen, in dessen krone mein blick verweilt, mehr oder weniger kurz oder lang je nach tageslauf und tagesaufgaben. der baum zeigt mir den stand des jahres an, er zeigt mir den fortschritt des reifens und verblühens und schliesslich den vollständigen abschied des laubes, bis ich auch die reine struktur der äste und zweige im winter wieder wunderschön finde und bestaune. meine frau und ich erleben im anblick seiner krone (und einiger anderer kronen) unser stilles dauervergnügen.
was mir immer wieder besonders auffällt, ist neben dem wandel die bewegung des blätterwaldes im ganzen und im einzelnen. die krone ist so umfangreich, dass sie sich völlig unaufgeregt verhält, selbst wenn deutliche windstösse sie ergreifen und dann in einzelnen teilen starke bewegung verursachen. es braucht schon wahrhaftig die stürme, um wieder einmal den ganzen bereich zu erschüttern. aber auch dann kann es vorkommen, dass kleine teilstücke der krone immobil bleiben als ginge das ganze sie gar nichts an. seltsamkeit im gebaren der winde und in der reaktion ihrer beute, des blätterwaldes. also kann sich einzelnes bewegen, was das grosse ganze noch ruhen lässt, oder es kann einmal das ganze ergriffen werden, und trotzdem bleibt einzelnes so gut wie unbewegt.
wie sich das ganze – alles – verhält und wie das einzelne, dies ist mein fragekomplex. meiner frau und mir stellt sich dieses fragespiel jedoch nicht nur angesichts unserer baumkrone, wir erleben es fast alltäglich, oft so plötzlich, dass wir es bemerken und ohne zu sprechen feststellen: es bewegen sich nur teile, teile einer menge irgendwelcher art. es ist wieder wie in der natur im spiel von wind und widerstand. den blick hinzulenken auf solche ereignisse, ohne sie auszuschmücken, sondern nur als kern einer sache wahrzunehmen, dies ist konkrete sprachwirklichkeit. meine frau und ich sind überzeugt, dass, wer einmal das gedicht gelesen und seinen sinn aufgenommen hat, ihm in der übertragung auf die lebenswirklichkeit sehr oft begegnet. mehr identität in der erkenntnis zwischen sprachgegenstand und realer erscheinung ist kaum möglich.
es kommt der technik der konkreten poesie zugute, dass sie ein statement gerne und leicht durch die probe der umstellung in frage stellt und damit das thema festigt. dialektik und wahrnehmung als ursprung des daseins und der dinge ergänzen sich.
Text und Kommentar aus: Eugen Gomringer: Poema. Gedichte und Essays. Herausgegeben von Nortrud Gomringer. Wädenswil am Zürichsee: Nimbus, 2018, S. 71-73

Herzlichen Glückwunsch, Eugen Gomringer!
Die Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nun im Museum. In diesem Jahr würden viele ihrer Autoren 100 Jahre alt werden, wie man so schön sagt (mindestens einer wird es tatsächlich): die Wolfgang Bächler, Heimrad Bäcker, Anne Dorn, Heinz Gappmayr, Eugen Gomringer, Hanns Dieter Hüsch, Ernst Jandl, Inge Müller, Heinz Piontek, Werner Riegel, Dieter Wellershoff …, sowie aus anderen Literaturen James Berry, Ernesto Cardenal, T. Carmi, Jack Gilbert, Karel Hynek, Philippe Jaccottet, Roberto Juarroz, Donald Justice, Carolyn Kizer, Kenneth Koch, Maxine Kumin, Samuel Menashe, László Nagy, Ladislav Novak, Achmad Schamlu, Jørgen Sonne, Gerald Stern, Mikis Theodorakis, Emmett Williams … und dann die 90- (Nanni Balestrini, Peter Bichsel, Richard Brautigan, Inger Christensen, Ira Cohen, Heinz Czechowski, Roque Dalton, Pere Gimferrer, Forugh Farrochzad, Fritz Rudolf Fries, Rolf Haufs, Sarah Kirsch, Christoph Meckel, Karl Mickel, Helga M. Novak, Renate Rasp, Rosemarie Waldrop …) und 80-Jährigen (Thomas Brasch, Klaus Merz, Reinhard Priessnitz, Ralf Thenior, Anne Waldman, Rafał Wojaczek, Adam Zagajewski …), fast schon ein Leseleben.
Der heutige Hunderter, Werner Riegel, wurde nur 31. „Zwischen den Kriegen“ hieß die Zeitschrift, die er herausgab, hektografierte und verschickte und gemeinsam mit Peter Rühmkorf unter Zuhilfenahme vieler Pseudonyme bestritt. Zum Jubiläum ein Gedicht und eine Mini-Blütenlese.
NACHTS FÜHRT SIE DIE FEUERSÄULE
Nachts führt sie die Feuersäule,
Tags der schwarze Schwaden.
Zug der Kameraden
Auf der bittren Meile.
Manna fiel und fette Wachtel.
Keiner rührt sie an.
Zug nach Kanaan
Mit Karton und Schachtel.
Volk in Hemd und Leinenhose.
Loch auf Arm und Knie.
Rast am Sinai.
Deine Stunde, Mose!
Gott und große Ziele.
Kanaan liegt weit.
Unser ist das Leid,
Und wir sind nicht viele.
Uns gehört die letzte Trauer.
Vierzig tote Jahre.
Toter Zukunft Mahre.
Eine Klagemauer.
Zwischen den Kriegen 6, Mai 1953, aus: Peter Rühmkorf. Werner Riegel: „… beladen mit Sendung/ Dichter und armes Schwein“. Zürich: Haffmanns, 1988, 1.-4. Tsd., S. 63. – Die folgenden Splitter aus demselben Buch.
Wir sind gegen die Deutsche Dummheit. (36)
Wo bleiben unsere Kritiker! Schließlich können wir doch nicht ALLES selbst machen! (67)
Es ist nicht schwierig, bei uns in Deutschland, mißverstanden zu werden. Das Talent: zu schreiben, erhält sich noch in einigen Exemplaren; das Talent: zu lesen, scheint ausgestorben. (100)
Die Kennzeichen finistischer Lyrik sind denen der Jazzmusik analog und äquivalent. Sie heißen: Blues, »drive« und »schmutziges (dirty) Spiel«. (131)

Sie feiern Schiller; sie feiern den Genius eines, der ihre harmloseren Triebe verstand und formulierte: ihre Tüchtigkeit, ihren Biedersinn; sie halten seine Ansicht für ein Denkmal: ihrer selbst. Die höhere Moralität dieses Mannes haben sie nie auf sich bezogen; sie schleichen daran vorbei, Schuldner und Schuldige. Heut feiern sie ihn, – als Schiller Toller hieß, haben sie ihn erschlagen! (213)
Elfriede Gerstl
(* 16. Juni 1932 in Wien; † 9. April 2009 ebenda)
Wer ist denn schon
wer ist denn schon bei sich
wer ist denn schon zu hause
wer ist denn schon zu hause bei sich
wer ist denn schon zu hause
wenn er bei sich ist
wer ist denn schon bei sich
wenn er zu hause ist
wer ist denn schon bei sich
wenn er zu haus bei sich ist
wer denn
Aus: „Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft“. Gedichte von Frauen. Hrsg. Marie Bernhard. Mit Illustrationen von Gerda Raidt. Berlin: Insel, 2024 (Insel-Bücherei 1538), S. 69
Drei böse Gedichte des belarussischen Dichters Dmitri Strozew (belarussisch: Dsmitri Strozau), oder Gedichte über eine böse Geschichte. (Siebenunddreißig im ersten Gedicht ist natürlich das Terrorjahr 1937).
Dmitri Strozew
(z nicht wie in Englisch zero, sondern wie deutsches Z; belarus.: Дзмітрый Строцаў, Dzmitry Strotsau, russ.: Дмитрий Строцев, wiss. Transliteration Dmitrij Strocev; * 12. April 1963 in Minsk)
SIEBENUNDDREISSIG
der drachen
nimmt sich die kinder
aus dem fluss des lebens
direkt aus dem trolleybus
opferung
wieso begreift ihr nicht
ein solches mittel
klärt alle fragen
schaltet den kopf aus
schneidet das herz ab
18.03.2017
*
exekutionsbesessene mutter Belarus
sowjetisches vertrauen auf gewalt
todesstrafe
rekrutenschikane
und alles
schon unter kontrolle
und alles
mit allem
verzahnt
chtonisches verlangen nach dem drachen
im Christuspelz
14.10.2017
NOTIZ
EINES WAHNSINNIGEN
wir
die einfachen
bürger von Belarus
wissen gar nicht
wie
die organe der hingerichteten
verteilt werden
wer
isst die leber
wer das herz
wem
serviert man
den kopf
25.04.2019
Aus dem Russischen von Andreas Weihe, aus: Dmitri Strozew: Das Bienenhaus. hochroth Berlin 2023, S. 7-9
ТРИДЦАТЬ СЕДЬМОЙ
дракон
забирает детей
из потока жизни
прямо из троллейбуса
жертвоприношение
как вы не понимаете
такое средство
закрывает вопросы
выключает голову
отрезает сердце
18.03.2017
*
казнелюбивая мать Беларусь
советское доверие к насилию
смертная казнь
дедовщина
и все
уже на контроле
и все
со всем
связано
хтоническое влечение к дракону
в Христовой шкуре
14.10.2017
ЗАПИСКА
СУМАСШЕДШЕГО
мы
рядовые
граждане Беларуси
даже не знаем
как
распределяются органы
казненных
кто
сьедает печень
кто сердце
кому
на стол идет
голова
25.04.2019
Aus: Дмитрий Строцев: улей. hochroth Berlin 2022 (die russischsprachige Version erschien separat bei hochroth).
Gedichte des belarussischen Lyrikers zum russischen Angriff auf die Ukraine standen schon Anfang Mai 2022 auf taz.de https://taz.de/Gedichte-zum-Krieg-in-der-Ukraine/!5846776/
Zum Geburtstag des türkischen Dichters Nâzım Hikmet ein Gedicht mit einem Kommentar von Peter Gosse. Gosses Essayband, aus dem ich es habe, gibt keine Quellen an und ich habe keine Werkausgabe zur Hand. Deshalb weiß ich nicht mal, wer es übersetzt hat. Es mag heute so stehenbleiben.
Nâzım Hikmet
(* 15. Januar 1902 in Thessaloniki; † 3. Juni 1963 in Moskau)
Heute haben sie mich das erste Mal
In die Sonne hinausgelassen.
Ohne mich zu rühren stand ich da.
Danach setzte ich mich mit Ehrfurcht auf die Erde,
meinen Rücken lehnte ich an die Wand.
In diesem Moment dachte ich
weder an das Fallen der Wellen noch an Streit
noch an Freiheit, noch an meine Frau:
Die Erde war, die Sonne war, ich war.
Dies hatte Hikmet vor Jahren geschrieben, bevor er aus der Türkei in die Sowjetunion entkam. Und dort, Ende der 1950er Jahre, stand er da (im von uns, einigen Studenten, gegründeten, alsbald ziemlich namhaften Moskauer „Klub der Enthusiasten“ – Ehrenburg trug, ohne Papier vor sich und gleichwohl beeindruckend druckreif, aus seinen Memoiren vor, Wosnessenski betrat, tatsächlich an der Hand geführt vom wunderbar warmherzigen Michail Swetlow, erstmals eine Bühne, estrada – wie die Russen sagen) – Hikmet also wies auf die Frau, eine üppige Blondine („Das Haar von der Sonnenfarbe des Strohs“, wie er selig-souverän mitteilte) neben ihm auf dem Stuhl – es mochte nun nicht mehr die des obigen Gedichts sein, und er sprach. „Ich bin sehr glücklich auf ihr!“ Auf – war es mangelhafte Russischkenntnis oder, hoffentlich, zarte Kritik an damaliger sowjetischrussischer Prüderie? Der übervolle Saal tat, als hätte er es überhört.
Aus: Peter Gosse, Über das allmähliche Verfertigen von Welt im Dichten. Essays mit sechs Zeichnungen von Volker Stelzmann. (Edition Ornament Band 12). Bucha bei Jena: quartus-Verlag, 2013, S. 32
Peter Gosse absolvierte 1956 – 62 ein Studium der Hochfrequenztechnik am Institut für Energetik in Moskau.
Ljubow (Ljuba) Jakymtschuk
Wörter an der Zungenspitze einer Mutter
sind immer am süßesten und am bittersten
sie lassen sich nicht von Sprache zu Sprache direkt übertragen
sie bedürfen Erklärungen und Anmerkungen.
jedes mütterliche »Bist du nicht hungrig?«
bedeutet »Wie geht es dir?«
manchmal widerspreche ich:
»kau es vor, ja, leg es mir in den Mund, Mama,
schau nach, ob ich schon geschluckt habe!
ist das deine besondere Form von Gewalt?«
»wenn du einmal selbst Kinder hast,
wirst du das verstehen«, antwortet sie.
da will ich sagen, mir wird's nie passieren
ich will das Telefon hinschmeißen und auf beleidigt tun
aber die Muttersprache wird vererbt
und schon spreche ich sie auch
zumindest zu mir selbst
wenn ich den Weihnachtsbaum schmücke
und zwischen den Kugeln Bonbons an die Zweige hänge
Essensreste auf dem Teller
kann ich nicht in den Müll werfen
also schlucke ich sie mit ganzer Kraft hinunter
ich erinnere mich, wie meine Oma uns Kinder bat
den Teller leer zu essen
und so aßen wir für Mama und Papa
für Oma und Opa
für all die Verwandten, die wir
nur aus dem Fotoalbum kannten
bis unsere Teller endgültig leer wurden
immer noch essen wir für die Verwandten
die vor einem Jahrhundert starben
vor einem halben Jahrhundert
und sogar noch letztes Jahr
an Hunger litten
jetzt komme auch ich nach Hause
und frage mein Kind:
»bist du nicht hungrig, Kleine?«
»hast du heute schon gegessen?«
und egal, wie die Antwort ausfällt
überrede ich sie, wenigstens etwas zu essen
um den Beweis ihrer Sättigung zu sehen
in diesem hausgemachten Essen
steckt unsere tausendjährige Geschichte:
aus der Gefangenschaft entlassene Menschen
die beim Anblick eines Apfels weinen
Millionen Verhungerte
mit aufgeblähten Bäuchen
in diesen Gesprächen über das Essen
sehe ich ein Schlachtfeld und jene,
die auf diesem Schlachtfeld gefallen sind
mir ferne und doch so nahe Menschen.
durch das Essen wird die Geschichte von Eltern an Kinder weitergegeben
wir kauen die Geschichte mit Mündern der Kinder
wir kauen sie leise
damit die feindlichen Geheimdienste es nicht hören
aber ich übersetze sie dir:
als man für Dokumente in ukrainischer Sprache erschossen wurde, 1918, 2022,
bekamen wir Dokumente auf Russisch
als man für die Pflege des Ukrainischen des Terrorismus beschuldigt wurde, 1930er- bis 1950er-Jahre,
ersetzten wir es durch die sowjetische Sprache
als man unsere Speisen nationalistische Propaganda nannte, in den 1960er- und 1970er-Jahren,
aßen wir das, was auch alle anderen aßen
entschuldige also, dass du bis heute
diese Überlebensgeschichte schluckst
kein Essen zum Vergnügen, nur um satt zu werden
um derjenige zu sein, was man isst
um so zu sein, wie alle anderen sind
um jemand zu sein, der nicht verhungert
nicht ins Konzentrationslager kommt
nicht in einem feuchten Keller erschossen wird
doch warte, nein, es gab eine Form des Protests:
unsere Großmütter haben zu Ostern
Paska-Brote gebacken
und nannten sie Kuchen
um die Ohren der Spitzel zu täuschen
als Kinder sammelten wir buntes Schokoladenpapier
und Kaugummiverpackungen von »Love is«
als Beweis für den Genuss
am Verzehr von Süßkram
ich schreibe allmählich an unserem Lexikon des Essens
Wort für Wort, Speise für Speise
einige von ihnen handeln vom Tod
aber viele handeln vom Leben
wie jenes Walnussschnitzel
das meine Grußmutter machte
als sie sich in den Neunzigern
kein Fleisch leisten konnte
aber die Nussernte reich war
ich schreibe dieses Lexikon
und ich gebe es dir unbedingt zum Lesen
damit du das erste Kind auf der Welt sein kannst
das aufhört, für alle verstorbenen Verwandten zu essen
und nur noch für sich selbst essen kann
für die Trauer um die Gefallenen
um die Verhungerten
um Gefolterte oder Vergiftete
holen wir uns unsere Worte zurück
und wenn du erwachsen bist
rufe ich dich an und frage dich
egal, wie sehr ich etwas anderes sagen will
dann frage ich dich ganz einfach:
»Wie geht es dir, Liebes?«
Für O.S. und K.M.
Kyiv, 2023
Aus dem Ukrainischen von Stefaniya Ptashnyk, aus: Delfi. Magazin für neue Literatur. #03, Herbst 2024, S. 17-20
Ljuba Jakymtschuk, geboren in Perwomaisk, Oblast Luhansk, Ukraine, ist eine in Kyjiw lebende Dichterin. Ihre Gedichte wurden in über 20 Sprachen übersetzt, ihr Buch »Aprikosen aus dem Donbass« stand auf der Shortlist des Mallarmé-Preises in Frankreich und wurde auf Französisch vertont von Catherine Deneuve. Im Jahr 2022 performte sie ihre Gedichte bei den Grammy Awards.
Stefaniya Ptashnyk, geboren in Lwiw, Ukraine, ist Linguistin, Buchautorin und Übersetzerin für Ukrainisch und Deutsch. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und lehrt deutsche Sprachwissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Wien.
Hinweis: Das Gedicht hat keinen Titel. Der Titel dieses Beitrags ist von mir gewählt und technisch bedingt – Beiträge brauchen eine Überschrift, um aufrufbar zu sein.
Uwe Kolbe
(* 17. Oktober 1957 in Ost-Berlin)
Das lyrische Ich
Ein Mann, eine Frau, vor einhundert Jahren,
sie setzten das lyrische Ich in die Welt, ich gebe es
einhundert Jahre später zurück. Bewiesen ist nichts,
nur kenne ich meinen Traum, in dem einer der Gefahr
entrinnt durch den brüllenden trockenen Tunnel.
Das tosende Wasser umhüllt mich und schleudert
ins Licht meinen selbstverständlich jüngeren Körper.
Zu schwimmen ist sinnlos, ich werde emporgerissen
ins offene Licht des Himmels, das ist die Wahrheit.
So wahr mir das Wasser hilft, gelange ich in Helle,
gerettet, aber wen rettet das da, das bin doch ich?
Mein Traum ist es, immer geträumt, wenn plötzlich
Apollo wieder zur Sprachjagd aufruft, und die Musen
loslässt, Kuratorinnen-Pack über den feuchten Klee.
Im Traum bin ich erlöst, der tosende Strudel nimmt
mich auf wie der Malstrom die ganze Welt nähme,
die auf der anderen Seite auch eine andere wäre.
Aus: Park. Zeitschrift für neue Literatur. Heft 75, November 2023, S. 27
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