Am Monmerte

Heute* vor 100 Jahren starb der französische Chansonsänger und Autor Aristide Bruant in Paris. Man kennt den roten Schal auf dem Plakat von Henri de Toulouse-Lautrec (s.u.).

*) Heute, wenn man nach dem französischen oder englischen Wikipedia geht. Das deutsche oder spanische dagegen nennen den gestrigen Tag. (Solche Umstimmigkeiten sind gaaaaar nicht selten.)

Hier jedenfalls eins seiner Chansons im Original und in der deutschen Fassung, die von dem DDR-Dichter Heinz Kahlau stammt. Doch zunächst eine andere Stimme.

Eine Legende ist noch einmal aufgestanden. Der Dichter Aristide Bruant, der vor vierunddreißig Jahren der Ruhm des alten französischen Cabarets war, Aristide Bruant, der das soziale Cabaret chanson geschaffen hat, der Mann, dessen Bild, in schwarzen Samthosen und roter Schärpe um den Leib, noch bei uns herumspukt, Aristide Bruant, den Steinlen auf die Plakate gezeichnet hat: Aristide Bruant singt in Paris.

Peter Panter alias Kurt Tucholsky, 1925 https://www.textlog.de/tucholsky/kritiken-rezensionen/aristide-bruant
Am Montmerte

Gemeiner Herkunft bin ich zwar,
Mein Vater bloß ein Säufer war
Der Rue Berthe.
Doch hausen seit 'ner Ewigkeit
Ich und die Meinen ohne Streit
Am Montmerte.

Um achtzehnhundertsiebenzig,
Da starb Papa elendiglich
Am Absinthe.
Siebenundvierzig wurde er
Und ruht im Grabe drin seither
Am Montmerte.

Schon zwei, drei Jahre später traf
Mich, seinen Sohn, der stets so brav,
Neue Härte.
Denn eines Tags um Abend rum
Fiel meine arme Mutter um
Am Montmerte.

Seitdem hab ich kein Glück gemacht,
Und ich verbrachte manche Nacht
In der Kälte.
Auch Hunger hatte ich, ganz klar,
Weil nicht mal Brot zu finden war
Am Montmerte.

Manieren hatte man und Schick
Als Sacré-Cœur noch nicht den Blick
Uns versperrte.
Damals umwarb ich die Nini,
Nini, denn nisten wollte die
Am Montmerte.

Im Herbste war es sicherlich,
Als auf dem alten Hügel ich
Sie begehrte.
Da haben wir im Heubett hier
Geheiratet ohne Papier
Am Montmerte.

Den Knirpsen war das ganz egal,
Es kamen zwei gleich auf einmal
Als Offerte.
Sie brechen sicher nicht den Brauch,
Sie leben, zeugen, sterben auch
Am Montmerte.

Gemeiner Herkunft bin ich zwar,
Mein Vater bloß ein Säufer war
Der Rue Berthe.
Doch hausen seit 'ner Ewigkeit
Ich und die Meinen ohne Streit
Am Montmerte.

Deutsch von Heinz Kahlau, wiederabgedruckt in: Poetischer Paris-Führer. Französisch und deutsch Zusammengestellt, eingeleitet und mit Kommentaren versehen von Mona Wodsak. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994.


Malgré que j'soye un roturier,
Le dernier des fils d'un Poirier
D'la ru' Berthe,
Depuis les temps les plus anciens,
Nous habitons, moi-z-et les miens,
A Montmerte.

L'an mil-huit-cent-soixante et dix,
Mon papa qu'adorait l'trois-six
Et la verte,
Est mort à quarante et sept ans,
C'qui fait qui' r'pose d'puis longtemps,
A Montmerte.

Deux ou trois ans après je fis
C'qui peut s'app'ler, pour un bon fils,
Eun' rud' perte:
Un soir, su' l' boul'vard Rochechouart,
Ma pauvr' maman se laissait choir,
A Montmerte.

Je n'fus pas très heureux depuis,
J'ai ben souvent passé mes nuits
Sans couverte,
Et ben souvent, quand j'avais faim,
J'ai pas toujours mangé du pain,
A Montmerte.

Mais on était chouette, en c'temps-là,
On n'sacrécœurait pas sur la
Butt' déserte,
Ej' faisais la cour à Nini,
Nini qui voulait fair' son nid,
A Montmerte.

Un soir d'automne, à c'qu'i paraît,
Pendant qu'la vieill' butte r'tirait
Sa rob' verte,
Nous nous épousions, dans les foins,
Sans mair', sans noce et sans témoins,
A Montmerte.

Depuis nous avons des marmots:
Des p'tit's jumell's, des p'tits jumeaux
Qui f'ront, certe,
Des p'tits Poirier qui grandiront,
Qui produiront et qui mourront,
A Montmerte.

Malgré que j'soye un roturier,
Le dernier des fils d'un Poirier
D'la ru' Berthe,
Depuis les temps les plus anciens,
Nous habitons, moi-z-et les miens,
A Montmerte.
Toulouse-Lautrec, Henri de, Public domain, via Wikimedia Commons
Seite aus einer Ausgabe von 1889 mit Zeichnungen von Théophile Steinlen

Wo soll man da hin?

Kryscina Banduryna

(Крысціна Бандурына. Geboren 1992 in Mazyr, Belarus)

Das Gewohnte ist verschwunden.
Anstelle des Gewöhnlichen Leere:
fett durchgestrichen
Vornamen, Namen –
gestrichen mit verhaltener Wut,
verhohlenem Hass.
Hier nun trennen sich unsere Wege.

Orpheus verwechselt vor Erregung die Kehre.
„Und wer bist du?", fragt der Spiegel. „Wer
bist du in diesem unvollendet gebliebenen
Santa-Barbara-Märchen?"
Auf Befehl von oben
schießen sie in den Rücken
mit Gummifeuerwerk und scharfem Bling-Bling.

Wo soll man da hin, liebe Eurydike, sag mir,
wohin?

06.11.2020

Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler, aus: 23. poesiefestival berlin. Belarus – Anthologie der Dichterinnen. Lesung und Gespräch. Gedichte zum Mit- und Nachlesen. Berlin 2022, S. 29

Звыклае знікла.
На месцы звычайнага пуста:
тлустым прочыркам
імёны і прозвішчы —
крэсляць з затоенай злосцю,
схаванай нянавісцю.
Нам з імі цяпер не па гэтай дарозе.

Арфей растрывожана блытае павароты.
А хто ты? - пытае люстэрка. — Хто ты
ва сёй гэтай так і не скончанай
санта-варварскай казцы?
Яны па указцы зверху
страляюць у спіны
гумовымі феерверкамі і агнявым канфеці.

Куды тут ісці, мілая Эурыдыка, скажы мне,
куды тут ісці?

06.11.2020

Bei lyrikline.org kann man eine erweiterte Fassung dieses Gedichts lesen und von der Autorin vorgetragen hören.

Von der unerwarteten Liebe

Federico García Lorca 

(* 5. Juni 1898 in Fuente Vaqueros, Provinz Granada; † 19. August 1936, ermordet, in Víznar nahe Granada)

GASELE I
VON DER UNERWARTETEN LIEBE


Niemand erkannte den Duft
der dunklen Magnolie deines Leibes.
Niemand wußte, daß zwischen den Zähnen
du einen Liebes-Kolibri quältest.

Tausend persische Pferdchen schliefen
auf dem mondhellen Platz deiner Stirn,
und vier Nächte lang umschlang ich
deine Lenden, diese Feinde des Schnees.

Zwischen Gips und Jasmin war dein Blick
ein fahles Büschel Samen.
In meiner Brust sucht ich für dich
die Elfenbeinlettern, die sagen immer.

Immer, immer: Garten meiner Agonie,
dein Leib auf der Flucht für immer,
das Blut deiner Adern in meinem Mund,
dein Mund ohne Licht schon für meinen Tod.

Aus dem Spanischen von Lothar Klünner, aus: Federico García Lorca, Diwan des Tamarit. Diván del Tamarit. Sonette der dunklen Liebe. Sonetos del amor oscuro. Übertragen von Rudolf Wittkopf und Lothar Klünner. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1990, S. 9

GACELA PRIMERA
DEL AMOR IMPREVISTO


Nadie comprendía el perfume
de la oscura magnolia de tu vientre.
Nadie sabía que martirizabas
un colibrí de amor entre los dientes.

Mil caballitos persas se dormían
en la plaza con luna de tu frente,
mientras que yo enlazaba cuatro noches
tu cintura, enemiga de la nieve.

Entre yeso y jazmines, tu mirada
era un pálido ramo de simientes.
Yo busqué, para darte, por mi pecho
las letras de marfil que dicen siempre.

Siempre, siempre: jardín de mi agonía,
tu cuerpo fugitivo para siempre,
la sangre de tus venas en mi boca,
tu boca ya sin luz para mi muerte.

Ebd. S. 8

Feuerzungen

Vier sehr kurze erotische Gedichte des peruanisch-spanischen Dichters Diego Valverde Villena (* 6. April 1967 in Lima, Peru)


ESPADAS ( II )
Cruzamos miradas
y yo fui el herido.

FLORETT ( II )
Wir tauschten Blicke
und ich war der Verwundete.


INDOCILIDAD DEL SUEÑO
Quiero soñar con otras, y apareces tú

UNGEHORSAM DES SCHLAFS
Träumen möchte ich von Anderen, und Du erscheinst.


CANTAR DE CANTARES
No es culpa del sol, Sulamita,
si se oscurece

que lo miraste

HOHELIED
Es ist nicht Schuld der Sonne, Sulamith,
wenn sie sich verdunkelt

da du sie angeschaut hast


BOCA
Tu boca es una planta carnívora que se ha hecho carne

MUND
Dein Mund ist eine fleischfressende Fleisch gewordene Pflanze

Aus: Diego Valverde Villena: Feuerzungen. Gedichte. Aus dem Spanischen von Harry Oberländer [span./dt.]. Frankfurt/Main: Edition Faust, 2024, jeweils auf den gegenüberliegenden Seiten 26/27, 28/29, 60/61 und 72/73.

(Nur wenige Gedichte in diesem Buch nehmen mehr als eine Seite ein, aber ich habe ungefähr die Kürzesten herausgesucht. Demnächst hier eine Rezension des Bandes.)

Heinz Czechowski (1935-2009)

Heute wäre Heinz Czechowski 90 Jahre alt. Ich wähle ein Gedicht, das ich vor über 40 Jahren zuerst gelesen habe, in bleierner Zeit, wo Gedichte Trost spenden.

Heinz Czechowski 

(* 7. Februar 1935 in Dresden; † 21. Oktober 2009 in Frankfurt am Main)

Was mich betrifft

Erziehungsberechtigt,
Und doch
Ständig erzogen von meinen Erziehern,

Mit gelockerter Zunge
Mündig geworden,
Und doch
Ständig mich anhaltend, den Mund zu halten,

Geh ich
Noch immer im Kreis.

Auf mich also verwiesen
Im Guten und Schlechten,
Teile ich mit:

Was mich betrifft,
So bin ich ich.

Die Zunge der Schlange ist
Geschickter als meine,
Die Haut des Chamäleons
Paßt sich vortrefflicher noch als die meine
Den jeweils herrschenden Umständen an.

Meine Vorzüge, ich gebe es zu,
Sind vergleichsweise gering: aber
Daß ich nicht kriechen kann
Und meine Farbe nicht wechseln

Je nach Belieben,
Ist auch eine Gnade, für die ich

Niemand zu danken habe,
Außer mir selbst.

Aus: Heinz Czechowski: Was mich betrifft. Gedichte. Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1981, S. 17

„Dem Dichter kann sie sein Gedicht nicht rauben“

Alexander Freiherr von Bernus (* 6. Februar 1880 in Aeschach bei Lindau; † 6. März 1965 auf Schloss Donaumünster in Donaumünster) war ein deutscher Schriftsteller und Alchemist bzw. Spagyriker. https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_von_Bernus

Isa, 1945

Hat sie uns vieles auch geraubt, die Zeit,
Dem Dichter kann sie sein Gedicht nicht rauben,
Noch dir und mir, woran wir Beide glauben,
Gehn wir nur immer unsern Weg zu zweit.
Es gibt auch Wege in der Dunkelheit,
Und andre müssen sich das Licht verdienen,
Doch unser Weg war ganz von Licht beschienen,
Er kam von weither und er führt noch weit.
Wohin er führt, weiß einzig dein Geleit,
Dein guter Engel – Ihm lass uns vertrauen
Und seinem Licht in dieser Welt voll Grauen
In ihrer tiefen Undurchsichtigkeit.

(© Verlag Hans Carl, Nürnberg, 1962) Quelle: Alexander-von-Bernus-Gesellschaft

Vu nemt men a bisele Glik

Olga Martynova (Ольга Борисовна Мартынова) wurde am 26. Februar 1962 in Sibirien geboren und lebt in Frankfurt am Main. Sie ist eine russisch-deutsche Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin. Anfang April wird sie in Staufen mit dem Peter-Huchel-Preis für ein herausragendes Gedichtbuch des Jahres 2024 ausgezeichnet. Such nach dem Namen des Windes heißt es. Ich komme erst jetzt dazu, es zu lesen, und wie sollte ich mich nicht gleich in das erste Gedicht verlieben, noch bevor ich den Rest lese?

Vu nemt men a bisele Glik

Weh mir, wo nehm ich
die Suppe,
im Winde die Fahnen dünn,
wehs mir
so oder so,
und der Kapo
im Schatten der Erde.
Die im Winde klirrenden »links«.
Und der Kapo trunken von Küssen:
Vu nemt men a bisele mazl.
Dünn waren die Fahnen.
Wehs mir, vu nehm ich,
wenns Winter ist,
Rosen a bisele,
mazl a bisele,
Schatten, a bisele
Erde, a bisele glik.
Wehs mir, vu nemt men
gelbe Birnen
und wilde Suppe,
a bisele Wasser,
und der Schatten brüllt,
wo nehm ich a bisele
mazl, wenns Winter und Blumen,
und Sonnenschein, wehs mir,
die Mauern stehn
im Schatten der Erde.
A bisele Erde
im Schatten des Gliks.

Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht
mehr. Da stand es und war nur noch sachliche
Aussage: so und so, und der Kapo brüllt »links«,
und die Suppe war dünn, und im Winde klirren
die Fahnen.
JEAN AMÉRY

... подойдет голубь, скажет – гёльдерлин ...
... tritt die Taube hinzu, gurrt – Hölderlin ...
OLEG JURJEW
Übers. von Steffen Popp

Vu nemt men a bisele mazl,
Vu nemt men a bisele glik.
Jiddisches Lied

Aus: Olga Martynova: Such nach dem Namen des Windes. Gedichte. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2024, S. 9f

Was, wenn er immer Täuschung meinte?

Anne Carson

(* 21. Juni 1950 in Toronto) 

Über Parmenides

Wir brüsten uns, wie zivilisiert wir sind. Doch was, wenn alle Dinge völlig anders hießen. Italien zum Beispiel. Ich habe einen Freund namens Andreas, ein Italiener. Er hat in Argentinien und in England gelebt, auch in Costa Rica. Überall, wo er lebt, lädt er Leute zum Abendessen ein. Eine Menge Arbeit. Artischockenpasta. Pfirsiche. Sein sinniges Lächeln vergeht ihm nie. Was, wenn sich herausstellt, dass Italien eigentlich Brzoy heißt – wird Andreas dann weiter wie der ewige Mond mit seinem geliehenen Schein die Welt durchwandern? Ich fürchte, wir haben nicht verstanden, was er sagte, noch seine Gründe. Was, wenn er, wann immer er Städte sagte, Täuschung meinte, zum Beispiel?

Deutsch von Marie Luise Knott, aus: Anne Carson: Irdischer Durst. Berlin: Matthes & Seitz, 2020, S. 40

SHORT TALK ON PARMENIDES

We pride ourselves on being civilized people. Yet what if the names for things were utterly different? Italy, for example. I have a friend named Andreas, an Italian. He has lived in Argentina as well as in England, and also Costa Rica for some time. Everywhere he lives, he invites people over for supper. It is a lot of work. Artichoke pasta. Peaches. His deep smile never fades. What if the proper name for Italy turns out to be Brzoy? – will Andreas continue to travel the world like the wandering moon with her borrowed light? I fear we failed to understand what he was saying or his reasons. What if every time he said cities he meant delusion, for example?

Aus: Short Talks. With a new afterword by the author and a new introduction by Margaret Christakos. London, Ontario: Brick Books, 2015

Erinnerung an Tanger

Ira Cohen 

(3. Februar 1935 in New York City – 25. April 2011 ebd.)

Souvenir de Tanger

für Cynthia Broan

Wie schnell das alles geht
im Cinema RIF
Kaum sind wir angekommen
müssen wir schon wieder heim
So versäumen wir zu finden
wonach wir suchten
Doch wenn sich unsere Herzen öffnen
quellen sie über, platzen
Was ist dieses Geheimnis,
dieses Du & Ich?
Der heiße Wind den sie chergui nennen
wird wehen wenn wir fort sind
wird fegen durch die Stadt
Rosenblätter auf dem Tisch
erinnern mich für immer an dich
»Con su permiso«,
flüsterte die Nacht
Schüttle diese Legenden ab
& entdecke dein wahres Selbst
Am Ende verspreche ich zu schweigen.

Deutsch von Florian Vetsch, aus: Im Grunde wäre ich lieber Gedicht. Drei Jahrzehnte Poesie. Eine Anthologie. Herausgegeben von Michael Krüger und Holger Pils. München: Hanser, 2019 – In Zusammenarbeit mit dem Lyrik Kabinett. S. 152f

Souvenir de Tanger 

for Cynthia Broan

How fast it all goes
at the Cinema RIF
By the time we get somewhere
we have to go home
What we were looking for
we fail to find
Yet when we open our hearts
they are full to overflowing
What is this mystery,
this You & I?
The hot wind they call the chergui
will come after we are gone,
will blow through the city
Rose petals fallen on the table
will always remind me of you
»Con su permiso,«
whispered the night
Escape from these legends
& discover your true self
In the end I promise to be silent.

als mir die sprache abhanden kam

Maja Haderlap

(* 8. März 1961 in Bad Eisenkappel/Železna Kapla, Kärnten) 

als mir die sprache abhanden kam 
vielleicht trank ich gerade kaffee
oder schlug eine zeitung auf.
vielleicht zog ich die vorhänge zu
oder sah auf die straße, als sie
mich verließ, ich dachte noch,
was für ein röcheln
aus der tiefe der wand,
was für ein klirren in diesem raum.
kein fensterglas sprang,
kein sessel fiel um in der küche.
an den straßenschildern erloschen
namen zu buchstabenasche.
über den häusern fuhr der
worttanker davon, massig, lautlos.
meine zunge zuckte wie ein
gestrandeter wal im trockenen mund.
ich floh aus der stadt,
zog mich hinter die grenze zurück.
kein brief kam an und antworten
blieben aus. wo ich
war, klafft eine lücke.
wo ich bin, treibt
mein schatten ins kraut.

Aus: »langer transit«, Gedichte © Wallstein Verlag, Göttingen 2014. Hier entnommen aus: Ostragehege. Zeitschrift für Literatur und Kunst. Nummer 100 (II/2021), S. 34 – Die Zeitschrift druckt auch eine Lesart dieses Gedichts von Róža Domašcyna.

Aus den briefen an unbekannte

Tillmann Severin

lieber gerhard falkner

du hast mir mal ein käsebrot geschmiert

es hätte eigentlich kuchen geben sollen
aber dein computer war abgestürzt
der mit dem neuen manuskript

darüber hattest du mich vergessen
und den kuchen

dafür gab es brot
eine scheibe frankenlaib
ich habe noch nie so dick butter gegessen
4 mm und darauf noch käse

über münchen haben wir geredet
über deine gedichte
über dein verhältnis zur sprachwissenschaft der hu
darüber, welche kolleginnen du neurotisch findest
kommas am ende deiner gedichtzeilen,
und über deine zusammenarbeit mit der kunst
und über den kongress über dich
„gerhard falkner und die künste"

gerhard, frage ich mich
wie schreibt man ein fettes gedicht

Aus: Tillmann Severin: museum der aussterbenden mittelschicht. Verlagshaus Berlin, 2022, S. 78

mer šprahen

Sibylla Vričić Hausmann 

(geboren am 4. November 1979 in Wolfsburg) 

mer šprahen

mer šprahen
šprahen des hercšlags
šprahen des athems
šprahen der berurung
šprahen der milh
tata-šprahen mama-šprahen
šprahen der veršvisterung
šprahen des kulšranks
šprahen des zing-zangs
šprahen der mušel
šprahen des merbaums
merere šprahen
dem menšlajn

Aus: Manuskripte 239/2023, S. 25

(Im Bedarfsfall lies š wie sch, h wie ch in dach, c wie z, z wie stimmhaftes s)

Richard Brautigan (1935-1984)

Richard Brautigan 

(* 30. Januar 1935, heute vor 90 Jahren, in Tacoma, Washington; † 16. September 1984 in Bolinas, Kalifornien)

Münder, in der heißen Asche Pompejis geküsst

Münder, in der
heißen Asche Pompejis geküsst,
kommen zurück,
und Augen, die nur ihre Geliebte anbeten konnten
in den Feuern von Pompeji,
kommen zurück,
und erstarrte Körper, die sich in Ekstase wanden
in der Lava von Pompeji,
kommen zurück,
und Liebende, die vollkommene Leidenschaft
im Tode Pompejis fanden,
kommen zurück,
und sie schließen wieder die Tür
auf mit den Namen eurer Söhne
und eurer Töchter.

Deutsch von Johannes Beilharz, vor Jahren gefunden auf dem Literaturportal Fixpoetry, das sein Erscheinen eingestellt hat. Der Übersetzer ist dabei, seine Texte auf einer eigenen Seite neu zu veröffentlichen.

Mouths That Kissed in the Hot Ashes of Pompeii

Mouths that kissed
in the hot ashes of Pompeii
     are returning
and eyes that could adore their beloved only
in the fires of Pompeii
     are returning
and locked bodies that squirmed in ecstasy
in the lava of Pompeii
     are returning
and lovers who found their perfect passion
in the death of Pompeii
     are returning,
and they’re letting themselves in
again with the names of your sons
and your daughters.

Aus: Richard Brautigan: Rommel Drives On Deep Into Egypt. New York: Dell Publishing Co., 1970

Copyright © Richard Brautigan 1970. Übersetzung Copyright © 2015 Johannes Beilharz

Kind von Traurigkeit

Konstantin Ames

Raum (kristallert)

Ich bin ein Kind von Traurigkeit.
Vor meinen Augen sah Stirn Welt.
Krone trug ich stets um m Hals.
Gut Freund mit der Betonung früh.
Ich bin ein Kind von Traurigkeit.

Zwischen Rippen volle Leere.
Zwischen Rippen keine Erde.
Eh. Wer s E nicht herzt ...
Er wird keiner Rede, keiner Herde
Erbe, Erfordernis, etc. etc.

Evaluieren Sie diesen Satz der Hexe:
»Du machst alles kaputt!«

Ich bin ein Kind von Traurigkeit.
Indes wissen es selbst Freinde.
Er lebt mehr echt als schlicht.

Aus dem brandneuen Buch von Konstantin Ames: Völklinger Schulderung. Industrial Writing / Romantische Medien. Poem • Essay. Berlin: Noack & Block, 2025, S. 30

Das Gedicht macht mich unsterblich

Ich blätterte ohne besondere Erwartungen im Abschnitt „Volkspoesie“ in der von Adolf Endler und Rainer Kirsch nachgedichteten Sammlung „Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten“ (1971). Da blieb ich an einem Gedicht hängen, das in meinen Ohren so gar nicht nach „Volkspoesie“ klang. In dem Buch gibt es knappe Informationen über die Autoren, aber nicht über diese anonymen Texte. In der Anthologie stehen diese Gedichte zwischen Schota Rustaweli (der zur Zeit des deutschen Minnesangs lebte) und dem König Teïmuras I. (1589-1663). Sollten sie wirklich so alt sein? Um so verwunderlicher wäre die „moderne“ Anmutung dieses Gedichts.

(Oder ob deutsche Dichter des späten Mittelalters oder der frühen Neuzeit auch „modern“ klingen, wenn man sie heute ins Georgische übersetzt?)

Das Gedicht

Also hab ichs ausgesonnen:
Durch dies Lied, ich dichts beizeiten,
Bleib ich leben, wenn ich sterbe,
Im Gedächtnis bei den Leuten.
Singen werdens meine Freunde,
Der Panduri rührts die Saiten,
Alle freun sich, und ich faule
Tief im Sarg, dem längst zu weiten –
Mein Gedicht mit seinen Reimen
Wird sich in der Welt verbreiten,
Meinen Namen werden nennen
Größte Länder, fernste Zeiten,
Wenn längst Blüten treibt mein Lager,
Längst zerfiel mein Haus zu Scheiten,
Und auf meiner Witwe wird wohl
Längst ein andrer munter reiten,
Längst –
So komm ich zu der Frage,
Wer, gilt es mich aufzubahren,
Mich am innigsten betrauert,
Ach, man wird es bald erfahren,
Ach, mein Herz wird recht behalten:
Keiner wird an Tränen sparen,
Aber eine nur, die liebe,
Nur die Mutter weint die wahren.
Alles kommt in Trauerkleidern
Und mein Weib mit offnen Haaren,
Wittib, überreich an Tränen,
Ihre Küsse, auch nicht raren,
Trösten bald schon einen andern,
Nicht in Monden, nicht in Jahren,
In drei Wochen; unvergessen
Bleib ich nur dem wunderbaren
Herzen meiner lieben Mutter.
Oft wird sie im Schlaf hochfahren,
Mich als Kind im Arme wähnen,
Denk ich wie von Foltermalen
Ihr Gesicht verheert von Tränen,
Wein auch ich.
O Qual der Qualen!

Nachgedichtet von Adolf Endler, aus: Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten, Berlin: Volk und Welt, 1971 – 2. Auflage 1974, S. 75f. (Den Nachdichtungen liegen Interlinearübersetzungen aus dem Georgischen von Nelly Amaschukeli zugrunde.)