Interessant mißlungen

findet Steffen Jacobs in seiner Welt-Kolumne ein Gedicht des Schauspielers und Brecht-Schwiegersohns Ekkehard Schall / Die Welt 20.4.02

Beyers Erdkunde

Aus eben dieser lebhaften Textbewegung zwischen dem Blick in den Hotelzimmerspiegel ins eigene, junge, noch kaum gezeichnete Gesicht und jenem auf eine politisch vielfach stigmatisierte Landschaft entstanden auch Beyers «Erdkunde»-Gedichte. Sie ereignen sich genau auf der intermittierenden Grenze zwischen dem Ich und dem, was es denkt, fühlt, sieht, hört und weiss. Ihre sinnliche Gegenständlichkeit täuscht. Wortbedeutungen erschliessen sich aus der Zeichenhaftigkeit, dem Spannungsverhältnis zwischen Identität und Nichtidentität von Wort und Ding. «Komm aus der Bilderzone» – Beyer schreibt gegen die Verfestigung von (Welt-)Bildern an, die in Totalitarismen endeten. / Beatrix Langner, NZZ 18.4.02

Marcel Beyer: Erdkunde. Gedichte. Dumont-Verlag, Köln 2002. 113 S., Fr. 31.80

Lyrik Polens

Mich interessiert die zeitgenössische Lyrik Polens , die ich natürlich nur in Übersetzungen lesen kann. Czeslaw Milosz mag ich sehr, seine Enkelin ist eine gute Freundin. Zbigniew Herbert finde ich grossartig, auch Szymborska, die ich kürzlich kennen gelernt habe. Und Adam Zagajewski – das Gedicht, das er unmittelbar nach dem 11. September schrieb, «Praise the mutilated world» («Lobt die verstümmelte Welt»), halte ich für eine der besten literarischen Reaktionen auf die Ereignisse in New York. Natürlich habe ich nicht alles von diesen Autoren gelesen, aber es ist mein Glück, dass vieles ins Englische übersetzt wird. / Salman Rushdie im Gespräch mit der Basler Zeitung , 18.4.02

Benn-Briefe

Dass jetzt auch der Briefwechsel mit Astrid Claes vorliegt, herausgegeben als Band sechs der Benn -Briefe im Verlag Klett-Cotta, gibt Benn-Lesern endlich die Freiheit, sich selbst ein Bild von den Qualen und Freuden des alten Dichters zu machen, dessen intellektuelle Klarsicht und Schärfe keineswegs unter den emotionalen Wirren gelitten hatte. / Joachim Dyck, Berliner Morgenpost 18.4.02 (auch in der Welt v. 18.4.)

Lyrik, und auch noch litauisch

Ob es nicht besser wäre, in einer anderen Sprache zu schreiben, auf Deutsch vielleicht oder gleich auf Englisch? Die Frage, die der litauische Schriftsteller Herkus Kuncius an seine Kollegen richtete, war nicht ganz ernst gemeint. Und doch war die marginale Position des Autors, der in einer so wenig verbreiteten Sprache schreibt, ein immer wiederkehrendes Thema an den beiden der litauischen Literatur gewidmeten Abenden. Literatur sei doch überall marginal, konterte der Lyriker Gintaras Grajauskas , das sei kein litauisches Problem. Ihn beschäftigt eher die Frage, warum seine Gedichte, die er für tieftraurig hält, so große Heiterkeit hervorrufen. / Florian Neuner, Berliner Zeitung 18.4.02

Oulipo & Co.

Dietmar Dath schreibt über die Schriftstellergruppe Oulipo (auf deren Mitgliederliste auch der Name Oskar Pastior steht) und ihre Ableger, darunter das vom Oulipoten Jacques Roubaud gegründete ALAMO:

„Regel“ hieß also der Anspruch, dem man gerecht werden wollte. Roubaud selbst steuerte zum oulipiensischen Kanon zwei solche Regeln bei, die „Roubaudschen Prinzipien“: Das erste schlägt vor, daß „ein Text, der entsprechend einer bestimmten restriktiven Prozedur erstellt ist, sich auch explizit auf diese bezieht“, das zweite verlangt, daß „ein Text, der nach einer mathematisch formulierbaren Prozedur geschrieben ist, auch die Konsequenzen der mathematischen Theorie tragen muß, die er illustriert“. Roubauds „Prinzessin Hoppy“ ist ein Exempel der zweiten Regel; die erste fand Verwirklichung in einer Dichtung Georges Perecs, die ohne den Buchstaben „e“ auskommt und zugleich dessen Verschwinden thematisiert („Anton Voyls Fortgang“). / FAZ 17.4.02

Außerdem heute: Stefan Weidner über den palästinensischen Dichter Mahmud Darwish .

Rilke-Lesung

Rilke-Lesung in der Sonderaustellung Worpswede im Pommerschen Landesmuseum Greifswald

Rainer Maria Rilke besucht im Spätsommer 1900 Worpswede auf Einladung Vogelers, den er in Italien kennengelernte hatte. Er ist gerade aus Rußland zurück, muß Abstand wahren zu Lou Salomé, seiner mütterlichen Geliebten, und begegnet den Mädchen in Weiß, der „blonden Malerin“ Paula Becker und der „dunklen Bildhauerin“ Clara Westhoff. Clara Westhoff wird schon im nächsten Jahr seine Frau werden und Paula Becker wird Otto Modersohn heiraten. Für Rilke beginnt eine Zeit, in der entscheidende persönliche wie künstlerische Weichen gestellt werden.

Die Texte aus der Zeit von 1900 bis 1908 beziehen sich auf diese beiden jungen Frauen. Bilden von Beginn an einen verstörenden, mythischen erotisch dingbelebten Raum, der aus der Zeit gehoben zu sein scheint. Die Texte gipfeln in dem „Requiem für eine Freundin“, um die Zeit von Allerseelen 1908 in Paris geschrieben, der damals schon fast ein Jahr lang toten Paula Modersohn-Becker gewidmet

Die Idee dieser Lesung entstand erst durch den Raum der Sonderaustellung, durch die Anwesenheit eines Selbstporträts Paula Modersohn-Beckers, der Büsten Rilkes und der Becker von Clara Westhoff-Rilke und eines Selbstporträts. Diese Anwesenheit der „Personen“ inmitten der Landschaftsarbeiten der Worpsweder Künstler, vermittelt einen wichtigen Teil des Kräfteverhältnisses, in dem diese Rilke-Texte entstanden.

Die sprachliche Aktualisierung der Texte in der Lesung geschieht verteilt auf zwei weibliche und eine männliche Stimme und wird durch improvisierte Bewegungen im Raum installiert. Sie versucht Bezug zu nehmen auf Rilkes dichterische Sprache, die Dingliches belebt und Bewegung stillstellt, versucht eine akustische Belichtung der Bilder und Skulpturen.

Die Lesung findet am 16.4.02 um 20.00 Uhr im Pommerschen Landesmuseum in Greifswald statt (Silke Peters).

strountes / unfoug

Im titel-Magazin schreibt Theo Breuer über Band 4 der Ekelöf -Werkausgabe bei Kleinheinrich.

Gunnar Ekelöf: strountes / unfoug. Kleinheinrich Buch- und Kunstverlag 2001 Sondereinband. 35 Euro. ISBN: 393075426

Lesen Sie auch: Lyrik im Stora-Verlag .

/ 16.4.02

Joseph Brodsky

In der FAZ erinnert Maja Turowskaja an Joseph Brodsky :

Mit fünfzehn hatte er die Schule verlassen, aber als sich herausstellte, daß man an moderne Literatur in der Sowjetunion nur auf polnisch herankam, eignete er sich Polnisch an. Danach fügte er seinem Russisch, gemäß Niels Bohrs Prinzip der Komplementarität, das Englische hinzu (seine Aussprachefehler hinderten ihn nicht, ein brillanter Essayist zu werden). …
Auf die Frage der Richterin Saweljewa, wer ihn in die Riege der Dichter aufgenommen habe und was ihm das Recht zu dieser Tätigkeit gebe, hatte Brodsky seinerzeit im Gerichtssaal geantwortet: „Ich glaube, das kommt – von Gott.“ Keine triviale Antwort für einen sowjetischen Burschen, der, von allem anderen abgesehen, des „Schmarotzertums“ angeklagt ist. Das Urteil – fünf Jahre Zwangsarbeit – bestätigte es, die Ausweisung bekräftigte es.

/ Frankfurter Allgemeine Zeitung , 16.04.2002, Nr. 88 / Seite 49

  • Joseph Brodsky: „Das Große Buch der Interviews“. Hrsg. von Valentina Poluchina. Sacharow-Verlag, Moskau 2000.
  • Joseph Brodsky: „Von Schmerz und Vernunft“. Hardy, Rilke, Frost und andere. Essays. Carl Hanser Verlag, München 1996.
  • Joseph Brodsky: „Der sterbliche Dichter“. Über Literatur, Liebschaften und Langeweile. Essays. Carl Hanser Verlag, München 1998.
  • Joseph Brodsky: „Wandel des Imperiums“. Gesammelte Gedichte. Moskau 2001.
  • Joseph Brodsky: „Collected Poems in English“. Farrar, Straus & Giroux, New York 2000 (Taschenbuchausgabe 2002).
  • David MacFadyen: „Joseph Brodsky and the Soviet Muse“. McGill-Queen’s University Press 2000.

Texttreue bei Nachdichtungen

Michael Braun befragt Raoul Schrott – u.a. über Texttreue bei Nachdichtungen:

Den griechischen Hexameter, der etwas Getragenes hat, kann ich nicht aus den Strukturen des Altgriechischen umstandslos ins Deutsche hinüberretten. Die Musikalität der einen Sprache kann ich nicht in die andere bringen, ohne sie in ein Prokrustesbett zu zwängen. Eine Eins-zu-Eins-Übersetzung wäre nichts als eine Travestie, die das Fremde an rein äusserlichen Dingen festmacht. Die griechische Metrik hatte z.B. nicht betonte und unbetonte Silben wie im Deutschen, sondern deren Sprachmelodie basierte auf langen und kurzen Silben und auf Tonhöhen. Oder nehmen wir das Okzitanische, die Sprache der Troubadours. Die hatte ein ungewöhnlich ausgewogenes Verhältnis zwischen Vokalen und Konsonanten. Das Deutsche dagegen hat viel zu viele Konsonanten und zu wenige Vokale.
Wenn man das mit den Möglichkeiten eines Musikinstruments beschreiben will, so könnte man sagen: Auf einer Orgel gibt es diese Bandbreite, das Deutsche ist aber ein Klavier dagegen. Also versuche ich, ein Stück Musik transponierbar zu machen für ein anderes Instrument. Und das ist die Aufgabe des Übersetzers. Das ist letztlich auch eine Art von Hermeneutik: Den Text aus seinem sprachlichen Kontext heraus zu verstehen, den Text als Sprachgestus und Sprechakt zu begreifen und die Suggestivität dieses Sprechakts im Deutschen neu zu erschaffen. / Basler Zeitung 16.4.02

The Atlantic Monthly

Glückliche Amerikaner! Ihre Periodika sind älter als unsere; und vielleicht sind sie deshalb freigiebiger im Internet? Wer hat, der kann. Welche deutsche Zeitschrift könnte einen Artikel aus dem Jahre 1942 arglos im Internet anbieten? – The Atlantic Monthly aus Boston kann; auf ihren sehr ergiebigen Poetry Pages gibts neben aktuellen Beiträgen (inclusive Audio-Dateien mit Gedichtlesungen) reichhaltige Archivpublikationen. Zur Zeit zum Beispiel: einen Artikel von Carl Sandburg just aus dem Jahr 1942, u.a. über Argumente gegen free verse :

The arguments against free verse are old. They are not, however, as old as free verse itself. When primitive and prehistoric man first spoke with cadence or color, making either musical meaning or melodic nonsense worth keeping and repeating for its definite and intrinsic values, then free verse was born, ages before the sonnet, the ballad, the verse forms wherein the writer or singer must be acutely conscious, even exquisitely aware, of how many syllables are to be arithmetically numbered per line.

oder, zweites Beispiel, eine Besprechung von Emily Dickinson aus dem Jahre 1913:

Without elaborate philosophy, yet with irresistible ways of expression, Emily Dickinson’s poems have true lyric appeal, because they make abstractions, such as love, hope, loneliness, death, and immortality, seem near and intimate and faithful. She looked at existence with a vision so exalted and secure that the reader is long dominated by that very excess of spiritual conviction. A poet in the deeper mystic qualities of feeling rather than in the external merit of precise rhymes and flawless art, Emily Dickinson’s place is among those whose gifts are

Too intrinsic for renown.

The Atlantic Monthly; January 1913; The Poetry of Emily Dickinson; Volume 11, No. 1; pages 93-97.

(Weiter zurück: im Oktober 1891 schreibt die Zeitschrift über den unerwarteten postumen Siegeszug der Dichterin).
(Naja, vielleicht kann das die FAZ im Jahre, sagen wir 2067 auch!) / 16.4.02

Karsunke über Auden

Dem Leser des Jahres 2002 – der Audens Gedichte in einer soeben (bei Pendo) erschienenen zweisprachigen Auswahl neu lesen kann – scheinen sie hingegen als inzwischen klassische Zeugnisse der lyrischen Moderne fast schon vertraut. Die Montagetechnik, die eine kaleidoskopartige Simultaneität unterschiedlicher Zeiten und Gegenstände erzeugt, ist als lyrisches Verfahren längst durchgesetzt, und die formale Vielfalt überrascht den Kenner postmoderner Polystilistik kaum noch. Nach wie vor beeindruckend ist allerdings die Fülle der Kunstmittel und -formen, über die Auden souverän verfügt hat. Strenge Sonette finden sich ebenso wie reimlose Langzeilen in freien Rhythmen, Oden und Elegien stehen neben Liedern und Songs (bis hin zum Gassenhauer), aphoristische Drei- bis Fünfzeiler wechseln mit mehrteiligen Zyklen, und manchmal erinnern sangbare Refrains daran, dass Auden das Libretto zu Strawinskys The Rake’s Progress mitverfasst hat. / Yaak Karsunke , FR 16.4.02

W. H. Auden : Anhalten alle Uhren. Gedichte, herausgegeben von Hanno Helbling, zweisprachig. Pendo Verlag, Zürich / München 2002, 151 Seiten, 22,90

Reiner Kunze

Die Ostthüringer Zeitung druckt einen Dankbrief (mit Gedicht) des Lyrikers Reiner Kunze an einen Arzt in Schleiz, der ihm seit den Zeiten der Verfolgung in der DDR freundschaftlich verbunden blieb. / OTZ (Schleiz) 16.4.02

Mehr übersetzen, weniger reden

Allein eine unermüdliche Übersetzungstätigkeit kann im westlichen Umgang mit dem Islam einen herrschaftsfreien Diskurs begründen. Sie ist daher nicht nur die bescheidenste, sondern auch die nobelste Tätigkeit, deren sich ein Islamwissenschafter befleissigen kann. Eine sensible Öffentlichkeit sollte ihm für diese mehr danken als für die nachhaltigste Medienpräsenz. / Stefan Weidner, NZZ 15.4.02

John Ashbery: Einschüchterung und Ermutigung

In the service of his imagination, John Ashbery has published more than 20 volumes of poems, a collection of plays, a novel, essays, and art criticism. He has received almost every award a poet can receive, including the Pulitzer Prize, the National Book Award, and a MacArthur Fellowship. At least three generations of American poets have been profoundly influenced by his presence.
If „Short-Term Memory,“ reprinted here , is the first Ashbery poem you’ve encountered, you’re apt to find it puzzling. That’s all right – Ashbery himself finds his poems “ hermetic “ and rarely tries to explain what they mean. / Michael Collier, The Baltimore Sun 14.4.02