Lilja und Elsa, Musen

Die Dichtung war im Dreieck Majakowski – Brik – Lilja keine geringere Grösse als der Sex. Lilja wurde nicht nur zum Objekt, sondern auch zur Richterin für den Verseschmied Majakowski, zur Wahrheit in letzter Instanz. Falls im russischen Scherz, das Wichtigste für einen Schriftsteller sei, sich die richtige Witwe auszusuchen, ein wahrer Kern steckt, hat Majakowski keinen Fehlgriff getan, als er den Briks sein Erbe vermachte. Von den einen verehrt und den anderen gehasst, hat Lilja ihr ganzes langes Leben, strikt und korrekt, dafür gesorgt, dass sein Name nicht in Vergessenheit geriet: Sie setzte Veröffentlichungen seiner Werke und von Erinnerungen durch, und sie schrieb sogar an Stalin. Es war ihr Brief, auf den Stalin seine berühmte Resolution vom «besten und begabtesten» Dichter kritzelte, wodurch der tragische Lyriker und «agitatorische Schreihals» auf lange Zeit zum offiziösen Sowjetkünstler wurde (ein Schicksal, das auch dem keinesfalls revolutionären Stanislawski nicht erspart blieb). Elsa wiederum tat viel dafür, dass Majakowskis Name in europäischen Dimensionen Glanz gewann. / Maja Turowskaja über den in Frankreich erschienenen Briefwechsel Lilja Brik – Elsa Triolet, NZZ 31.8.02

Ganz Herbst

NZZ druckt am 31.8.02 das berühmte Gedicht „Ganz Herbst“ von Frantisek Halas in einer Nachdichtung von Felix Philipp Ingold (online leider wie immer ohne Zeilenbruch). – Albert Gier bespricht in der gleichen Ausgabe zwei neue Biographien von Victor Hugo. – Die FAZ-Anthologie stellt heute ein Gedicht von Werner Kraft vor.

Hebräische Wörter-Welt

Könnte er wählen, würde Asher Reich noch einmal in Mea Shearim geboren werden wollen? «Ich würde genau dieselbe Kindheit wählen», sagt Reich, «und zwar wegen der Sprache. Denn ohne genau diese Kindheit wäre ich kein Dichter geworden. Die jüdischen Gebete haben Dichter wie Schlomo Ben Gavirol geschrieben. Das ist meine Basis. Texte zu schreiben ist deshalb für mich wie eine zweite Kindheit – ich bin zur sprachlichen Goldmine meiner Kindheit zurückgekehrt. Im Alter von zwei, drei Jahren lehrte man mich das Alphabet, und ich las religiöse Texte; ich wuchs ohne Spielzeuge, Tiere und Natur auf, nur mit hebräischen Buchstaben. Meine Kindheit war eine verzauberte Wörter-Welt – und ich lebe heute noch in dieser verbalen Welt.» / Bettina Spoerri, Tagblatt 31.8.02

Lilja und Elsa, Musen

Die Dichtung war im Dreieck Majakowski – Brik – Lilja keine geringere Grösse als der Sex. Lilja wurde nicht nur zum Objekt, sondern auch zur Richterin für den Verseschmied Majakowski, zur Wahrheit in letzter Instanz. Falls im russischen Scherz, das Wichtigste für einen Schriftsteller sei, sich die richtige Witwe auszusuchen, ein wahrer Kern steckt, hat Majakowski keinen Fehlgriff getan, als er den Briks sein Erbe vermachte. Von den einen verehrt und den anderen gehasst, hat Lilja ihr ganzes langes Leben, strikt und korrekt, dafür gesorgt, dass sein Name nicht in Vergessenheit geriet: Sie setzte Veröffentlichungen seiner Werke und von Erinnerungen durch, und sie schrieb sogar an Stalin. Es war ihr Brief, auf den Stalin seine berühmte Resolution vom «besten und begabtesten» Dichter kritzelte, wodurch der tragische Lyriker und «agitatorische Schreihals» auf lange Zeit zum offiziösen Sowjetkünstler wurde (ein Schicksal, das auch dem keinesfalls revolutionären Stanislawski nicht erspart blieb). Elsa wiederum tat viel dafür, dass Majakowskis Name in europäischen Dimensionen Glanz gewann. / Maja Turowskaja über den in Frankreich erschienenen Briefwechsel Lilja Brik – Elsa Triolet, NZZ 31.8.02

Lucille Clifton

Susan Stamberg talks with Lucille Clifton about a sequence of her poems included in the anthology September 11, 2001 – American Writers Respond. (Audio from Morning Edition.) / 30.8.02

Brauchst du den Schlaf dieser Nacht

Einen rätselhaften Satz plaziert Meike Fessmann in ihre Besprechung eines neuen Gedichtbands von Evelyn Schlag (SZ 30.8.02 – dort auch das Wort Liebesvollzugsvermeidungsgedicht):

Mit mittlerweile fünf Gedichtbänden (neben mehreren Prosawerken) gehört Evelyn Schlag zu den wenigen Autoren, die sich kontinuierlich der lyrischen Form bedienen und ihre eigene Lyrik fortentwickeln.

EVELYN SCHLAG: Brauchst du den Schlaf dieser Nacht. Gedichte. Zsolnay Verlag, Wien 2002. 117 S., 15,90 Euro.

Dichterkönige

In der taz schreibt Brigitte Oleschinski nicht nur über ihre eigenen Gedichte, sondern auch über den indonesischen Islam:

Als der Islam im 15. Jahrhundert auf die indonesischen Inseln kam, kam er als egalitäre Befreiungsreligion, die eine in Kasten erstarrte Gesellschaft aufsprengte. Er kam nicht aus der arabischen Welt, sondern über die Handelswege aus China, und er kam gleichsam als poetisches Wort. Seine ersten Führer waren die sunan, so genannte Dichterkönige, zu deren Gräbern heute noch zehntausende pilgern – Zehntausende, deren Kleidung erst seit ein oder zwei Jahrzehnten aussieht wie überall in der arabischen Welt. / taz 29.8.02

Das inszenierte Wort

Der Mangel gebiert oft die besten Ideen. Zumindest meint das Karolina Kos. Die Texterin und Konzeptionerin war eigentlich auf der Suche nach einem Verlag, der ihre Sinnsprüche, Gedanken und Kurzgedichte veröffentlichen würde. Leider erfolglos. Aus dieser Not heraus kam die 29-Jährige auf eine andere Idee. „Ich dachte, wenn heute kaum einer mehr Lyrik publiziert, erst recht nicht welche von Unbekannten, dann könnte ich doch einfach meine Texte ausstellen.“
Vom 31. August an zeigt die Sindelfingerin im Atelier Unsichtbar beim Nordbahnhof weitere Werke ihrer Kunstform, die sie „das inszenierte Wort“ nennt und bei der Lyrik und Texte nicht auf dem Papier, sondern, mittels geplotteten Klebebuchstaben, auf diversen Alltagsgegenständen zu lesen sind. „Wir sehen uns als Poesie-Handwerker“, so Kos. „Das geschriebene Wort wird von seinen Multiplikatoren wie Buch oder Zeitung gelöst und mit dem Raum oder dem Objekt verbunden. Ziel ist, neue Veröffentlichungswege für Lyrik zu finden, sie aus der verstaubten Ecke zu holen und über Textinstallationen dem Betrachter einen neuen Zugang zum Wort zu eröffnen.“ / Stuttgarter Zeitung 28.8.02

Erlanger Poetenfest

Über das am 29.8.02 beginnende Erlanger Poetenfest informiert die Neue Frankfurter Presse, 28.8.02.

Duell vor 30 Jahren

„Lieber reiner Schnaps als Rainer Barzel!“, dichteten die Jusos, während die Junge Union „Lieber Weinbrand als Willy Brandt“ dichtete.

Und Barzel himself, CDU-Chef vor Kohl, dichtete vor:

Ich bin Delegierter,/ kein Geschmierter, Bornierter./ Ich hab was zu sagen/ und werde es wagen.

oder auch, hochaktuell:

Nun manipulieren sie wieder:/ Mal auf und mal nieder/ rechnen sie Zahlen/ wegen der Wahlen/ die Demoskopisten -/ als ob sie es wüssten. / Berliner Zeitung 27.8.02

Vladimir Nabokov

Bekanntlich hat sich Vladimir Nabokov (1899-1977) in allen Sparten der schönen Literatur umgetan, am erfolgreichsten war er als Erzähler, am wenigsten erfolgreich als Dramatiker. Seine hochkarätige, schwer übersetzbare Lyrik bleibt noch zu entdecken, sein Briefwerk, die Essayistik, die Vorlesungen sind in mehreren Bänden greifbar. / Felix Philipp Ingold schreibt in der NZZ v. 27.8.02 über neuaufgetauchte Interviews des Autors.

Devastating power

„Do I still yearn for my virginity?“ Sappho asks in another fragment. What is the meaning here? Who is talking? Is it Sappho, an old woman tormented by sex? Or the voice of Sappho’s creation? It is the need to decide that draws us in.

In the fragments of just a single line, the words assume a particular, devastating power. „You burn me,“ she says in one piece of verse. / NYT 26.8.02 *)

Hewett gestorben

Die australische Dichterin Dorothy Hewett: („poet, playwright, novelist and bohemian“, Feministin, „grande dame of the australian literature“) starb im Alter von 79 Jahren.

An obituary. (From The Age.)
More on the Australian poet. (From The Age.)

Auszug aus einem Gedicht:

where are the lips now Alice
that opened to the man you loved
& the strong thighs
that held him close as birth?
Three feet is enough in the clay
three feet of earth is deep
they sleep sound they settle down
the sweet flesh falls off
like a snake’s skin

/ 26.8.02

Lyriker und Pfarrer

Der Spiegel 35/2002 berichtet lyrisch über einen Lyriker und Pfarrer:

„… Die Flut hat ein Urvertrauen zerstört. Das wird noch lange in den Menschen arbeiten“, sagt der Pfarrer von Weesenstein.
Pfarrer Christian Lehnert ist ein blasser, stoppelhaariger junger Mann, der die vorislamischen Mystiker studiert hat. Er betreut die Pfarrei nur halbtags. Eigentlich ist er Lyriker bei Suhrkamp und bekam für seine dunklen, klein geschriebenen Verse einen „Leonce und Lena“-Förderpreis.
Jetzt muss Lehnert eine Welt von 223 Seelen wieder aufbauen. Eine kleine Welt, die einmal aus 40 Häusern bestand, von denen jedes Vierte in den Fluten verschwunden ist. Und anders als Noah bleiben ihm dafür nicht 350 Jahre Lebenszeit.

/ 26.8.02

Tragic power of the word

The fragments of Sappho constitute a compelling demonstration of the tragic power of the word, its capacity to make us feel loss as deeply as we do in life. The lines just quoted are all that survive of the original poem, recovered from a paraphrase by an obscure orator named Maximus of Tyre. We will never know what happened after Eros shook the poet’s mind, or who caused the tempest. The sensitive reader, confronted with fragment 47, must attempt something like an imaginative reconstruction of the whole poem, as it might have been. Despite the impossibility of the undertaking, the longer the lines play in the mind, the closer the lost poem comes glimmering toward the surface.

There have been many fine translations of the fragments of Sappho since Philips‘ day, and now Anne Carson, a distinguished Canadian poet, offers her version. Carson restores to us the Sappho who fell in love with a girl because she reminded her of a graceless child and strips away the mawkish cliche of the odd musical lady leaping off the cliff (admittedly less of a problem now than when classical literature was widely read).

If Not, Winter: Fragments of Sappho, translations from the Greek by Anne Carson, reviewed by Jamie James. / Los Angeles Times, 25.8.02