elemente, sonette

Sogar die taz kommt uns heute lyrisch:

Konsequenterweise ist so mancher Text auch ein Stück erotischer Lyrik: „wo dies so fruchtet; zungenfertig, uns dran säugend,/ wie leib- uns, nahrhaft fassen im anreichern, -schwellen,/ in eignen saft lauthals geraten uns, frisch erzeugend/ zur neige flößen ein uns sattsam zu erhellen“.

Das ist barocke Sprachlust in moderner Diktion und darüber hinaus (darf man das sagen?) zeitlos schön. Elementare Gedichte eben: geschrieben mit poetischem Feuer, mit allen theoretischen Wassern gewaschen; sie stehen mit beiden Beinen auf der Erde und tragen den Kopf in den Lüften – so hoch, dass sich künftige Sonettierer ganz gehörig danach recken müssen.

/NICOLAI KOBUS, taz 28.1.03 über

Franz Josef Czernin: „elemente, sonette“. Hanser Verlag, München
2002, 160 Seiten, 17,90

Liebe Welt,

am 26. Januar 2003 startete das Internetkulturmagazin satt.org – der bunte Zauberwürfel mit mehr als sechs Seiten – die Gedichtanthologie Lyrik.Log. Die vom Berliner Dichter Ron Winkler herausgegebene Lyriksammlung präsentiert jede Woche jeweils ein Gedicht eines zeitgenössischen Autors (samt kurzen biographischen Angaben). Beiträge zugesagt haben bislang unter anderem Frans Budé (NL), Gerhard Falkner, Hartwig Mauritz (NL), Bert Papenfuß und Maren Ruben.
Bei den Gedichten handelt es sich größtenteils um deutschsprachige Erstveröffentlichungen. Selbstverständlich werden bei Übersetzungen auch die Gedichte in der Originalsprache mitveröffentlicht.

Herausgeber Ron Winkler verbindet mit dem Projekt folgende Ziele:

Lyrik.Log wird zunächst für einen Zeitraum von einem halben Jahr versuchen, die Vielgestaltigkeit der Poesie zu beweisen. Wöchentlich mit einem weiteren Gedicht angereichert, ist die so wachsende Anthologie ein Pulsschlag des zeitgenössischen Gedichts und Fingerzeig auf dessen Inhalte, Energien und Potenziale. Lyrik.Log ignoriert Generationszeiträume, Altersstufen und Szenegrenzen, um eine möglichst weit gespannte Galerie der Gedichte aufzuspannen und Nachricht zu geben vom Entwicklungsstand der ältesten literarischen Gattung.

Lyrik.Log wird jeden Sonntag aktualisiert. Ein übersichtliches Archivsystem
bietet einen einfachen und schnellen Zugriff auf alle zurückliegenden
Eintragungen. Die erste Folge von Lyrik.Log stammt von dem in Berlin lebenden Dichter Andreas Altmann.
<http://www.satt.org/lyrik-log/>.

Gedichte zum Samstag

(25.1.03) In der NZZ: der argentinische Dichter Santiago Kovadloff. – – – In der FAZ stellt Peter von Matt Günter Eichs Gedicht „Latrine“ vor (in dem sich „Hölderlin“ auf „Urin“ reimt). – – – In Rolf Schneiders Berliner Anthologie ein Gedicht von Henryk Bereska (Berliner Morgenpost).

Eva Zeller 80

Zum 80. Geburtstag von Eva Zeller am 25.1.03 gratulieren die Süddeutsche und die FAZ. – – – Für die SZ-Rubrik „Deutsche Landschaften“ schreibt Lutz Seiler über seine Thüringer Heimatgegend. – – – Die Berliner Zeitung schreibt über das Cellokonzert „Tout un monde lointain“ von Henri Dutilleux, dessen fünf Sätzen jeweils Verse aus Baudelaires Gedichtsammlung „Les fleurs du mal“ vorangestellt sind.

Robert Frost wiederzuentdecken

Die Übersetzung befindet sich fast immer auf dem idealen Mittelweg von Textnähe und Textferne, der eine gelungene Adaption auszeichnet. Lars Vollert verfügt über ein Stilgespür, das seine Übersetzung wohltuend von manchem eher uninspirierten Zugriff abhebt. Wenn sie zuweilen etwas altbackener klingt als das unprätentiöse Original, ist dies den rhythmischen Erfordernissen des Deutschen anzulasten. / Jürgen Brôcan, NZZ 23.1.03

Robert Frost: Promises to keep. Gedichte. Amerikanisch und Deutsch. Übersetzung und Nachwort von Lars Vollert. Verlag Langewiesche-Brandt, Ebenhausen 2002. 160 S., Fr. 24.40.

(Thomas Kling urteilte in der Zeit-Literaturbeilage vom 12.12.02 weniger freundlich über die Übersetzung).

The Robert Frost Web Page (dort kann man Dateien mit Frosts Stimme hören/ herunterladen)

Lemon und Libelle

Der Münchner Poet Albert Ostermaier hat einen Gedichtzyklus für ein Streichquartett geschrieben, die couragierte Hamburger Saitenspielformation String Thing hat ihn vertont, und der Regisseur Helmut Danninger, in langjähriger Zusammenarbeit mit dem Modern String Quartet zum Spezialisten für inszenierte Musik gereift, hat ein Bühnenereignis daraus gemacht. / SZ 22.1.03

poetry news

Über zwei Wiener Peter-Altenberg-Ausstellungen berichtet der „Kurier“, 22.1.03 – – – Auf die junge, 1942 in einem faschistischen Arbeitslager ums Leben gekommene Czernowitzer Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger weist die Leonberger Kreiszeitung am 22.1.03 hin. – – – Über den Mecklenburger Arzt und Lyriker Armin Richter berichtet die Schweriner Volkszeitung. – – – Die angolanische Lyrikerin Ana Paula Tavares trägt am 6.2.03 aus der gerade erschienenen Anthologie »Antilopenmond« ihre Gedichte vor – auf dem Frankfurter Festival „Afriva Live 2003“ (Frankfurter Neue Presse). – – – Wie Elfriede Gerstl nun in Wien zu Ehren kommt, berichtet die Wiener Zeitung.

Einzug in Cremona

Ein repräsentativer Auswahlband liegt unter dem Titel «Einzug in Cremona» nun auch auf Deutsch vor, betreut von Peter Urban, der bereits 1968 in der «Edition Suhrkamp» mehrere Dutzend Gedichte des Serben ediert und übertragen hatte. Einiges wurde wieder aufgegriffen – dabei lassen sich die übersetzerischen Revisionen studieren, sehr aufschlussreich. Pavlovic beherrscht viele Tonfälle: den lakonischen und den psalmodierenden, den erzählerischen und den elegischen, den ironischen und den reflexiven. /

Ilma Rakusa, NZZ 21.1.03 über

Miodrag Pavlovic: Einzug in Cremona. Gedichte. Aus dem Serbischen übersetzt von Peter Urban. Mit einem Nachwort von Peter Handke. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2002. 177 S., Fr. 39.50.

Heute außerdem: Sibylle Birrer bespricht

Sarah Kirsch: Islandhoch. Tagebruchstücke. Steidl-Verlag, Göttingen 2002. 104 S., mit 42 Aquarellen, Fr. 31.-.

Kein Wunder bei den Eltern:

„Wooroloo“ ist eine Übung in familiärem Exorzismus. Das geht nicht ohne Paradoxien ab. Am auffälligsten ist die, in der Öffentlichkeit gegen die Öffentlichkeit anzuschreiben. Und doch muss ein Gedicht wie „Leser“ zu denken geben: Ihren eigenen toten Babies wollten sie Leben einhauchen, / Da nahmen sie ihre Träume und lasen Worte auf von einer, / Die für sie gelitten hatte. // Mit jedem von ihr geschriebenen Stück / Fingerten sie durch ihre Seelen-Unterwäsche. Wollten sie nackt. / Wollten wissen, woraus sie gemacht war. // Dann versuchten sie, den Vogel wieder neu zu befiedern. // (… ) Während ihre Mütter in stillen Gräbern lagen, / Rechtwinklig markiert durch grünen, zugeschnittenen Kiesel / Und Blumen in einem Einmachglas, gruben sie meine aus. // Bis hinunter zu den Muscheln, die ich auf ihren Sarg gestreut hatte. // Sie wendeten sie hin und her wie Fleisch auf Kohlen, / Um die Geheimnisse ihrer verdorrten Schenkel / Und eingefallenen Brüste zu erkunden. /

MEIKE FESSMANN, SZ 21.1.03 über die Tochter von Ted Hughes und Sylvia Plath. Die Rezensentin urteilt:

Dennoch wäre dieser Gedichtband auch ohne seine Aura beachtlich – mit ihr wird er zum Abenteuer.

FRIEDA HUGHES: Wooroloo. Gedichte. Englisch-Deutsch. Übertragen von Jutta Kaußen. DuMont Verlag, Köln 2002. 123 Seiten, 17,90 Euro.

Ulrike Draesner

Unter der Überschrift „Nachrichten von der Poesie. Neue Gedichte“ präsentiert Joachim Sartorius in der SZ vom 21.1.03 Ulrike Draesner.

Stress mit Brecht

Das Gedicht „Die Lösung“ galt als unpublizierbar. Brecht verspottete darin die Worte seines Kollegen KUBA zum 17. Juni, das Volk habe das Vertrauen der Regierung verscherzt und müsse sich darob schämen. „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Brecht hatte die Rechte an den Suhrkamp-Verlag vergeben, und der Aufbau-Verlag musste sich seine Brecht-Ausgabe im Westen lizenzieren lassen. Laut vertraglicher Regelung sollten die „Gesammelten Werke“ (von einer „Gesamtausgabe“ hatte man auf Grund der komplizierter Manuskriptlage abgesehen) identisch sein. Diese Auflage erfüllte für den Zensor den Tatbestand der Nötigung: Konnte der Leser doch Zeile für Zeile und Wort für Wort die ost- und westdeutsche Ausgabe miteinander vergleichen. Daher hat in der Geschichte der DDR-Zensur kein anderes einzelnes Problem den SED-Kulturpolitikern auch nur annähernd so viel Kopfzerbrechen bereitet wie die Zwickmühle der deutsch-deutschen Brecht-Edition. / Simone Barck, BZ 21.1.03

[Das Gedicht erschien bei Suhrkamp 1964, bei Aufbau 1969. Fünf Jahre gewonnen, mehr war nicht drin.]

Saudische Dichterin

Umso überraschender ist es, dass in diesem frauenfeindlichen Klima sich trotzdem Frauen in Kunst und Literatur einen Namen gemacht haben, auch über die Grenzen Saudiarabiens hinaus. Eine davon ist die Dichterin Fauzia Abu Khalid. Sie ist 1956 in der Hauptstadt Riad geboren, studierte in ihrer Heimat und in den USA Soziologie und lehrt heute an der Frauenuniversität Ibn Saud. Sie empfindet das Schreiben im Königreich als ständige Herausforderung: «Das kreative Schreiben benötigt ein Höchstmass an Freiheit. Man muss die Fesseln in sich selber überwinden. Aber es gibt noch weitere, äussere Fesseln. Nicht nur die politische Macht, sondern auch die gesellschaftliche Kontrolle, die mächtiger sein kann als die Politik. Die Menschen wachen eisern über ihre Traditionen.» In ihren Gedichten behandelt sie ihre Erfahrungen in der patriarchalen saudischen Gesellschaft. In einem Gedicht vergleicht sie das Schicksal der neugeborenen Mädchen mit dem altarabischen Brauch, Neugeborene lebendig zu begraben. Weil die Dichterin keine fremden Eingriffe in ihrer Lyrik duldet, veröffentlicht sie ihre Gedichte ausserhalb des Königreiches. …
So [muß] sie in die Nachbarländer Bahrain oder in die Vereinigten Arabischen Emirate fahren, um ihre eigenen Bücher zu kaufen und natürlich alles andere, was im Königreich verboten ist. / Mona Naggar, NZZ 20.1.03

Außerdem heute: ein Gedicht von Peter Horst Neumann.

Dichter und Pfarrer

Überhaupt tauchte das Thema Religion in den Reden der Laudatoren und Preisträger auffallend häufig auf. Am deutlichsten verständlicherweise in der Dankrede des Lyrikers Christian Lehnert, der einen der beiden mit 5500 Euro dotierten Förderpreise erhielt. Denn Lehnert, 1969 in Dresden geboren, sieht sich in einer „für die heutige Zeit seltsamen Doppelexistenz“ als Dichter und Pfarrer. Im Spagat zwischen diesen Welten entdeckt er etwas, was sie beide miteinander verbindet, und dies hat mit Grenzen zu tun. Religion, nicht zu verwechseln mit den Lehren und Riten einer Kirche, taste „über die Widersprüche und Zufälligkeiten des Lebens hinaus auf eine fremde Mitte zu, wo jedes Bild, jeder Begriff, jeder Name verstummt“. Darin aber berühre sie sich mit dem Schreiben, „denn Gedichte entstehen dort, wo die Sprache versagt, wo ich nichts mehr sagen und doch nicht schweigen kann“. Bezug nehmend auf den Aufklärer, der sich zeitlebens auch mit theologischen Streitfragen befasste, wagte Lehnert schließlich die These: „Vielleicht ist die zeitgenössische Lyrik – zu diesem Schluss eben reizt mich Lessings theologischer Schleichweg – sogar ein angemessenerer Ausdruck für religiöse Erfahrung geworden als die Sprache der Kirche.“ / Dresdner Neueste Nachrichten 20.1.03

Gestorben

BBC News meldet den Tod des bedeutenden Hindudichters Harivansh Rai Bachchan, der am vergangenen Sonnabend im Alter von 96 Jahren in Bombay starb.

/ 19.01.03

Kubanischer Mythos

tbg. Sinnlich-sinnige Anekdoten ranken sich um die kubanische Dichterin Carilda Oliver Labra, die zu einem Mythos der Karibikinsel geworden ist. Mit Hemingway soll sie einmal in den Dünengräsern von Matanzas verschwunden sein. Rafael Alberti malte ihr eine Taube auf die Hand. Carilda Oliver Labra war eine Marilyn Monroe oder Marlene Dietrich der kubanischen Poesie: extravagant, blond und berühmt. «Eine Frau schreibt dieses Gedicht / wo sie es gerade kann / zu welcher Zeit auch immer egal welcher Tag.» / NZZ 18.1.03

Carilda Oliver Labra: Um sieben in meiner Brust. Gedichte über die Liebe (spanisch-deutsch). Übertragen von Dorothea Engels und Erich Hackl. Distel-Literaturverlag, Heilbronn 2002. 122 S., Fr. 28.80.