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Veröffentlicht am 19. Dezember 2025 von lyrikzeitung
181 Wörter, 1 Minute Lesezeit.
Elke Engelhardt
Wie mein Großvater mir Deutschland erklärte
Mein Großvater war eine Birke. Er schnitt die Worte sorgfältig in gleichlautende Rechtecke. Dann verwahrte er sie in einem Karton aus Birkenrinde. Wenn seine Enkel sehr lange sehr stumm und leise zu seinen Füßen gesessen hatten, durften sie einen Blick in den Kasten werfen. Manchmal geschah es bei solchen Gelegenheiten, dass ein Blick in die Kiste fiel und dort gefangen blieb, während ein Wort entwich. Dann kreiste das Wort befangen zwischen den stummen Kindern umher. Letztendlich schlüpfte es immer dem Kind in den nur leicht geöffneten Mund, dessen Blick in der Schachtel gefangen war.
Es gab Ausnahmen.
Es gibt immer Ausnahmen, sagte meine Großmutter, außer wenn es ans Sterben geht. Der Tod stiehlt uns unsere Eigenarten. Er stiehlt uns restlos alles, womit wir uns auszeichnen könnten. Am Ende sind wir alle Leichen.
Das war die Art, in der die Großmutter schwieg. Und der Großvater war eine Birke.
Aus: Literaturbote 145 (das letzte Heft), September 2024, S. 145
Die Zeitschrift wurde vom Hessischen Literaturforum Mousonturm e.V. herausgegeben. Dieses Heft wurde von Beate Tröger zusammengestellt.
Kategorie: Deutsch, DeutschlandSchlagworte: Beate Tröger, deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Elke Engelhardt, Erinnerungsliteratur, Familienerinnerung, Gedicht des Tages, Hessisches Literaturforum Mousonturm, Kurzprosa, literarische Metapher, literarische Miniatur, Literaturbote, Literaturbote 145, poetische Prosa, Sprache und Erinnerung, Wie mein Großvater mir Deutschland erklärte
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