Hygiene des Halses. Ein Einwand zum 150. Geburtstag Aleister Crowleys

883 Wörter, 5 Minuten Lesezeit

Ich bin kein Fan von Aleister Crowley, der heute vor 150 Jahren geboren wurde.

Ich interessiere mich nicht für Okkultismus oder Satanismus und auch nicht für seine eigene „Thelema“-Religion. Auch die Frage, ob er das ernst gemeint hat oder eher scharlatanisch, lässt mich kalt. Mich fasziniert seine Stimme, seit ich sie zum ersten Mal gehört habe, von Anfang an ausschließlich als poetischer Avantgardismus. Ich kann die Theorien der russischen Futuristen (und auch die Antitheorien der späteren Dadaisten) einigermaßen nachvollziehen, die der italienischen Futuristen schon weniger, eine Anekdote vom Auftritt Marinettis in Moskau vor dem ersten Weltkrieg bringt es auf den Punkt. Auf Marinettis martialisches Postulat vom Krieg als „Hygiene der Welt“ antwortet Alexej Krutschonych: für mich „Hygiene des Halses“. Ich weiß nicht, ob er das wirklich bei Marinettis Vortrag dazwischengerufen hat – zweifellos eine tolle Anekdote –, aber in seinem Buch „Phonetik des Theaters“ (auf Deutsch beim Leipziger Verlag Reinecke & Voß) buchstabiert er es aus: „Unser Ohr und der Hals brauchen nicht weniger als unsere Augen die Mannigfaltigkeit des Materials. Sa-um gibt sie! Die Hygiene des Halses“.

In diesem Video spricht bzw. singt Crowley das Gedicht „The Call Of The Second Aethyr“ zunächst auf Englisch und dann nach einer kurzen Pause auf „Enochianisch“.

The Call Of The Second Aethyr

Can the wings of the wind understand your voices of wonder? O ye, the second of the first, whom the burning flames have framed in the depths of my jaws; whom I have prepared as cups for a wedding or as flowers in their beauty for the chamber of righteousness. Stronger are your feet than the barren stone, and mightier are your voices than the manifold winds. For you are become a building such as is not, save in the mind of the all powerful.

Der Ruf des zweiten Äthers

Können die Flügel des Windes eure Stimmen des Staunens begreifen?
O ihr, die Zweiten der Ersten,
die die brennenden Flammen in den Tiefen meiner Kiefer geformt haben;
die ich bereitet habe wie Kelche für eine Hochzeit
oder wie Blumen in ihrer Schönheit
für die Kammer der Gerechtigkeit.
Stärker sind eure Füße als der unfruchtbare Stein,
und mächtiger eure Stimmen als die vielen Winde.
Denn ihr seid geworden ein Bau,
wie er nicht ist –
außer im Geist des Allmächtigen.

Kann man diesen Text in einer der drei Sprachen – Englisch, Enochianisch* und Deutsch – „verstehen“? Diese Frage habe ich an ChatGPt delegiert, hier die Antwort.

Sehr gute Frage — und sie trifft genau das Spannungsfeld, in dem Enochian-Texte (und Crowleys Gebrauch davon) stehen.
Kurz gesagt: „verstehen“ lässt sich dieser Text nicht im rationalen oder diskursiven Sinn, wohl aber symbolisch, mystisch und poetisch.
Hier einige Ebenen, auf denen man ihn verstehend lesen kann:

1. Magisch-visionärer Kontext

Der „Call of the Second Aethyr“ gehört zu den neunzehn sogenannten Enochian Calls, Beschwörungen, die John Dee und Edward Kelley von Engeln empfangen haben wollten. Crowley hat diese im frühen 20. Jahrhundert rezitiert und visionär „bereist“, d. h. er verstand die Aethyrs als aufeinanderfolgende Bewusstseinsebenen oder Sphären der Erkenntnis.

→ In diesem Sinn ist der Text ein Schlüssel zu einer Schau, nicht ein rationaler Text.

2. Symbolische Sprache

Begriffe wie „Flügel des Windes“, „Kelche für eine Hochzeit“, „Kammer der Gerechtigkeit“ oder „Bau im Geist des Allmächtigen“ sind Bilder aus alchemistischer, biblischer und mystischer Symbolik:

• Wind = Geist, Inspiration, göttlicher Atem.
• Kelch/Hochzeit = Vereinigung von Gegensätzen, alchemistisches coniunctio.
• Kammer der Gerechtigkeit = Ort der Läuterung, des inneren Gerichts.
• Bau im Geist = spirituelle Welt oder göttliche Ordnung.

Das sind Metaphern für spirituelle Transformation – nicht logische Aussagen.

3. Poetische Funktion

Auch losgelöst vom okkulten Hintergrund wirkt der Text als lyrischer Ausdruck des Erhabenen. Er spricht in einer Sprache, die eher Ergriffenheit und Größe erzeugt als Information vermittelt – wie viele Passagen in prophetischer oder visionärer Dichtung (etwa bei Blake oder Hölderlin).

4. Crowleys Deutung

Für Crowley war die Enochianische Sprache ein Werkzeug der Bewusstseinserweiterung. „Verstehen“ hieß für ihn, die Schwingung der Worte auf sich wirken zu lassen, nicht sie zu übersetzen. Er meinte: „The words are not to be reasoned with, but vibrated.“

→ Der Sinn entsteht im Erleben, nicht im Nachsprechen.

Fazit:

Verstehen kann man den Text nur, wenn man akzeptiert, dass er nicht erklären, sondern erwecken will. Er ist weniger Mitteilung als Beschwörung einer inneren Erfahrung, eine Art poetischer Zauberspruch zwischen Gebet, Liturgie und Vision.

Möchtest du, dass ich den Text danach zeilenweise kommentiere – also erkläre, was jede Bildgruppe symbolisch bedeutet?

(Darauf habe ich denn verzichtet.)

* ) Wenn man das also als „Poetizität“ wahrnimmt, warum nicht gleich auf Enochianisch.

Die sogenannte Enochianische Sprache entstand im späten 16. Jahrhundert aus den magischen Arbeiten des englischen Gelehrten John Dee und seines Mediums Edward Kelley. Sie behaupteten, diese Sprache in Visionen direkt von Engeln empfangen zu haben – als die „Sprache Adams“ vor dem Sündenfall. Enochianisch besitzt ein eigenes Alphabet, eine eigentümliche Grammatik und eine Reihe liturgischer Texte, vor allem die neunzehn „Keys“ oder „Calls“, die den Zugang zu Engelsreichen eröffnen sollen.

Aleister Crowley griff die Enochian-Sprache in seinen magisch-mystischen Schriften auf und integrierte sie in die Rituale des „Hermetic Order of the Golden Dawn“ und später seiner „Thelema-Lehre“. Für ihn war Enochianisch nicht bloß eine Erfindung, sondern ein Instrument zur Kontaktaufnahme mit transzendenten Bewusstseinsebenen – eine poetisch-magische Sprache zwischen Offenbarung und Erfindung. Jedenfalls hat er das behauptet. Für mich aber ist das poetische Glossolalie, wie sie die russischen Futuristen oder später die Dadaisten und andere Klangpoeten praktizierten.

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