Apotheose einer kolonialen Statue

363 Wörter, 2 Minuten Lesezeit

Eine kleine Groteske aus der europäischen Kolonialherrschaft in Indien in einem Gedicht des mexikanischen Schriftstellers Octavio Paz.

Octavio Paz 

(* 31. März 1914 in Mixcoac, heute Mexiko-Stadt; † 19. April 1998 ebenda)

Apotheose des Generals Dupleix

Für Severo Sarduy
(At the entrance to the pier of Pondicherry is
the statue of the unhappy rival of Clive, on a
pedestal formed of old fragments of temples.
Murray's Handbook of India)

Dem Meer zugewandt entfaltet sich,
ein steinerner Fächer, der Halbkreis.
Aus einem Tempel herausgebrochen: neun
Säulen: die neun Planeten.
In ihrer Mitte, aufrecht auf dem Piedestal,
das Kinn ein Bug, das Haupt ein Blitzableiter,
gesalbt mit Teer und Butter,
weder Ganesha noch Hanuman: in der Parade
der Götter ein noch anonymer Gott,
und ebenso anonyme Stunden regiert er,
die Rechte erhoben, Kniehose, Perücke,
der General Dupleix, ehern auf seinem Sockel,
zwischen dem Hôtel d’Europe und dem Meer ohne Schiffe.

(Übersetzung: Fritz Vogelgsang und Rudolf Wittkopf)

Die Statue des französischen Generals Joseph François Dupleix stand nach Erringung der Unabhängigkeit Indiens noch einige Zeit in Pondicherry, der früheren Hauptstadt der französischen Kolonie in Indien. Was einst koloniale Machtinszenierung war, wurde nach der indischen Unabhängigkeit zur Projektionsfläche für das Volk – die Statue wurde mit Teer beschmiert, als handle es sich um Hanuman, den Affengott. Paz beschreibt die Figur als „anonymen Gott“, erhöht auf einem Sockel aus zerstörten Tempeltrümmern, der sich zwischen zwei Welten spannt: kolonialer Repräsentation und indischer Spiritualität, Machtgestus und Lächerlichkeit, Ewigkeit und Verfall.

Apoteosis de Dupleix

Para Severo Sarduy

(At the entrance to the pier of Pondicherry is
the statue of the unhappy rival of Clive, on a
pedestal formed of old fragments of temples.
Murray's Handbook of India)


Cara al mar se despliega,
abanico de piedra, el semicírculo.
Desgajadas de un templo, las columnas
son nueve: los nueve planetas.
En el centro, de pie sobre la basa,
proa el mentón, la testa pararrayos,
ungido de alquitrán y mantequilla,
no Ganesh ni Hanumán: entre la cáfila
de dioses todavía dios anónimo,
horas también anónimas gobierna,
diestra en alto, calzón corto, peluca,
el general Dupleix, fijo en su zócalo,
entre el Hôtel d’Europe y el mar sin barcos.

Quelle: Octavio Paz: Vrindavan und andere Gedichte aus dem Osten. Spanisch und Deutsch. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1994, S. 50f

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