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Heute vor 60 Jahren starb der Dichter Johannes Bobrowski. Sein Gedichtband „Sarmatische Zeit“ war in der Stadt- und Kreisbibliothek in Weißenfels im Sterbehaus des Dichters Novalis vorhanden, als ich wenige hundert Meter weiter zur Erweiterten Oberschule ging. Kindheit, vertraute Klänge. Schulbeispiele für das, was seine Poetik „sinnlich vollkommene Rede“ nannte. (In der Schule kam er nicht vor.) Man musste es nur so lange lesen, bis man es fast auswendig konnte. Kindheit, Wagenfahrt, Wilna, Am Strom…
Johannes Bobrowski
(* 9. April 1917 in Tilsit; † 2. September 1965 in Berlin)
Kindheit
Da hab ich
den Pirol geliebt –
das Glockenklingen, droben
aufscholls, niedersanks
durch das Laubgehäus,
wenn wir hockten am Waldrand,
auf einen Grashalm reihten
rote Beeren; mit seinem
Wägelchen zog der graue
Jude vorbei.
Mittags dann in der Erlen
Schwarzschatten standen die Tiere,
peitschten zornigen Schwanzschlags
die Fliegen davon.
Dann fiel die strömende, breite
Regenflut aus dem offenen
Himmel; nach allem Dunkel
schmeckten die Tropfen,
wie Erde.
Oder die Burschen kamen
den Uferpfad her mit den Pferden,
auf den glänzenden braunen
Rücken ritten sie lachend
über die Tiefe.
Hinter dem Zaun
wölkte Bienengetön.
Später, durchs Dornicht am Schilfsee,
fuhr die Silberrassel
der Angst.
Es verwuchs, eine Hecke,
Düsternis Fenster und Tür.
Da sang die Alte in ihrer
duftenden Kammer. Die Lampe
summte. Es traten die Männer
herein, sie riefen den Hunden
über die Schulter zu.
Nacht, lang verzweigt im Schweigen –
Zeit, entgleitender, bittrer
von Vers zu Vers während:
Kindheit –
da hab ich den Pirol geliebt –
14.11.1954
Aus: Johannes Bobrowski, Die Gedichte (Gesammelte Werke Band 1), Berlin: Union, 1987, S. 6f
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