Nr. 357

Ein Gedicht des salvadorianischen Dichters Roque Dalton, der heute vor 50 Jahren ermordet und am 14. Mai vor 90 Jahren geboren wurde.

Roque Dalton

(* 14. Mai 1935 in San Salvador; † 10. Mai 1975 in Quezaltepeque)

NR. 357

Die Aufseher lassen sich in verschiedene Gruppen einteilen. Zum Beispiel, die mit Steinen nach Kaninchen schmeißen, sobald welche mit Margeriten im Maul aus dem Garten gerannt kommen. Und jene, die vor meiner Zelle herumhumpeln, dabei starke Worte brüllen und zusehen, wie sich in ihren Uhren der Geifer des Regens sammelt. Dann noch, die mich frühmorgens mit einem Pissestrahl wecken (wobei sie mir mit der Taschenlampe das Gesicht lecken) und mißmutig erzählen, daß es noch kälter geworden ist. Zu keiner dieser Gruppen gehört Nr. 357, früher Hirte und Musikant und jetzt aus Rache Polizist, wegen irgendeiner undurchsichtigen Geschichte, allerdings nur noch bis Entlassung (das heißt der von Nr. 357) Ende des Monats. Weil er sich nachts davongestohlen hatte und bis neun Uhr neun Uhr morgens bei seiner Frau schlief, dem Dienstreglement zum Hohn. Vor ein paar Tagen hat mir Nr. 357 eine Zigarette geschenkt. Als er mich gestern ein großes Blatt Anis kauen sah (mit der Hakenrute, die ich mir gebastelt hatte, war mir gelungen, die Pflanze in die Nähe des Gitters zu ziehen), fragte er mich nach Kuba. Und heute hat er mir vorgeschlagen, ich könnte ihm doch ein kleines Gedicht schreiben – etwas über die Berge von Chalatenango –, damit er ein Andenken von mir hat, wenn sie mich umgebracht haben.

Übertragen von Klaus Laabs, aus: Poesiealbum 236. Roque Dalton. Berlin: Neues Leben, 1987, S. 30

Im Jahr 1959 wurde er verhaftet und zum Tode verurteilt. Am Tag vor seiner Hinrichtung wurde Präsident José María Lemus López gestürzt; dies rettete Dalton vor der Exekution. Nach seiner Freilassung ging er nach Mexiko ins Exil. In seinen im Exil verfassten Büchern El turno del ofendido und La ventana en el rostro berichtet er über diese Geschehnisse.
1961 reiste Dalton nach Kuba, wo er bis 1965 blieb. In diesem Jahr kehrte Dalton nach El Salvador zurück, wurde dort aber bald wieder verhaftet und zum Tode verurteilt. Wieder entging er der Exekution: Ein Erdbeben ließ die Mauern seines Gefängnisses einstürzen, und ihm gelang die Flucht nach Kuba. (…) In kubanischen Militärcamps ließ er sich als Guerillero ausbilden. 1973 bot er sich den Fuerzas Populares de Liberación (FPL) als Kämpfer an. Deren Führer Salvador Cayetano Carpio wies ihn jedoch zurück mit dem Hinweis, seine Rolle in der Revolution sei die eines Dichters, nicht die eines Soldaten. Daraufhin schloss Dalton sich dem Ejército Revolucionario del Pueblo (ERP) an. In dieser „Revolutionären Volksarmee“ geriet der undogmatische Dalton bald mit der marxistischen Führung aneinander. Man unterstellte ihm, die Organisation spalten zu wollen. Nachdem ein „Revolutionäres Tribunal“ ihn zum Tode verurteilt hatte, exekutierten seine Genossen Roque Dalton am 10. Mai 1975.
Das Strafverfahren wegen Mordes gegen zwei ehemalige Kommandanten der Guerilla, Joaquín Villalobos und Jorge Meléndez, wurde durch ein Gericht in San Salvador am 9. Januar 2012 aufgrund von Verjährung eingestellt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Roque_Dalton

Die DDR-Version:

1961 wegen „staatsfeindlicher Aktivitäten“ zum Tode verurteilt, Urteil wird nach einem Machtwechsel vier Tage vor dem Exekutionstermin ausgesetzt; Exil in Mexiko, dort Ethnologiestudium; 1963 in Kuba, Rückkehr nach El Salvador, Verschleppung und Versuch, ihn in der Gefangenschaft durch Nahrungsentzug umzubringen; 1964 Flucht während eines Erdbebens; (…) 1974 Rückkehr nach El Salvador, schließt sich dem Revolutionären Volksheer (ERP) an, wird am 10. Mai 1975 von einer maoistischen Fraktion dieser Guerilla-Organisation ermordet

Quelle: Poesiealbum 236

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