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Und gleich der nächste 100er. Heute vor 100 Jahren wurde der nikaraguanische Schriftsteller Ernesto Cardenal geboren. Zum Anlass ein Stück aus seinem Canto Cosmico (Kosmischen Gesang). Es ist etwa die Hälfte des 2. Gesangs. Der erste Gesang ist überschrieben: Der Urknall, der zweite: Das Wort.
Ernesto Cardenal
(* 20. Januar 1925 in Granada, Nikaragua; † 1. März 2020 in Managua, Nikaragua)
Canto Cosmico. Kosmischer Gesang
Aus dem ZWEITEN GESANG
Das Wort
Am Anfang
– vor der Raum-Zeit,
war das Wort.
Alles was ist, ist also wahr. Gedicht.
Die Dinge existieren in der Form von Wörtern.
Alles war Nacht, usw.
Es gab weder Sonne noch Mond, noch Menschen, noch Tier, noch
Pflanzen.
War das Wort. (Das Wort der Liebe.)
Geheimnis und gleichzeitig sein Ausdruck.
Das, was ist und gleichzeitig ausdrückt, was es ist:
"Als es am Anfang noch niemanden gab,
schuf er die Worte (naikino)
und gab sie uns, so wie die Yucca-Pflanze",
in jener vergilbten, anonymen Übersetzung aus dem Deutschen
von einem Teil des großen Buches von Presuss,
das ich im ethnographischen Museum von Bogotá fand,
spanische Übersetzung von Presuss, der aus dem Huitoto ins Deutsche
übersetzt:
Das Wort ihrer Gesänge, das er ihnen gab, so sagen sie,
ist das Gleiche, mit dem er den Regen machte
Er ließ es regnen mit seinem Wort und einer Trommel)
die Toten reisen in eine Region, wo "man die Worte gut spricht";
flußabwärts: der Fluß ist sehr groß,
(das, was sie vom Amazonas gehört haben, Presuss zufolge)
dort sind sie nicht aufs Neue gestorben,
sie leben gut abwärts des Flusses, ohne zu sterben.
Der Tag wird kommen, da reisen auch wir flußabwärts.
Am Anfang war also das Wort.
Der, der ist und sagt, was er ist.
Das heißt:
der sich vollkommen ausdrückt.
Geheimnis, das sich gibt. Ein Ja.
Er ist an sich ein Ja.
Enthüllte Wirklichkeit.
Ewige Wirklichkeit, die sich ewig enthüllt.
Am Anfang...
Vor der Raum-Zeit,
bevor ein Davor war,
am Anfang, als es nicht einmal einen Anfang gab,
am Anfang,
da war die Wirklichkeit des Wortes.
Als alles Nacht war, als
alle Wesen noch dunkel waren, bevor sie Wesen wurden,
war es eine Stimme, ein klares Wort,
ein Gesang in der Nacht.
Am Anfang war der Gesang.
Den Kosmos schuf er singend.
Und deshalb singen alle Dinge.
Sie tanzen nur der Worte wegen (durch die die Welt geschaffen wurde),
sagen die Huitoto "Ohne Grund tanzen wir nicht."
Und so wurden die großen Bäume des Waldes geboren,
die Canaguche-Palme mit ihren Früchten, daß wir zu trinken hätten,
und der Choruco-Affe, damit er von den Bäumen frißt,
das Tapir, das die Früchte vom Boden frißt,
das Guara, den Borugo, daß sie den Wald fressen,
er schuf alle Tiere, wie die Nutria, die Fisch frißt,
und auch die Zwerg-Nutria,
er machte alle Tiere wie den Hirsch und den Chonta-Hirsch,
in der Luft den Königsadler, der die Chorucos frißt,
er schuf den Sidyi, den Picón, den Kuyodo-Papageien,
den Eifoke- und den Forebeke-Truthahn, den Bakital, den Chilanga,
den Hokomaike,
den Patilico, den Sarok-Papagei,
den Kuikudyo, den Fuikango, den Siva und den Tudyagi,
die Stinkente, die Mariana, die gelernt hat, Fisch zu fressen,
den Dyivuise, den Siada, den Hirina und die Himegisinyos,
und weiter geht das Huitoto-Gedicht
in der anonymen spanischen Übersetzung von
derjenigen von Presuss aus dem Huitoto ins Deutsche,
die in der Schublade eines Museums liegt.
"Auch wenn sie sagen: Sie tanzen ohne besonderen Grund.
Wir erzählen auf unseren Festen unsere Geschichten."
Welche Presuss vor vielen Jahren geduldig mit einem Grammophon
aufnahm und ins Deutsche übersetzte
Die Toten: Sie sind zurückgekehrt zum Worte, das sie schuf,
aus dem sie mit dem Regen quollen, den Früchten und Gesängen.
"Wenn unsere Bräuche nur absurd wären
dann wären wir traurig bei unseren Festen."
Und der Regen ein Wort aus seinem Mund.
Er schuf die Welt durch einen Traum.
Und er selbst ist so etwas wie ein Traum. Ein Traum, der träumt.
Sie nennen ihn Nainuema, Presuss zufolge:
"Der, der ist (oder hat), was es nicht gibt."
Oder wie ein Traum, der Wirklichkeit wurde, ohne das Geheimnis des
Traumes zu verlieren.
Nainuema: "Der, der etwas sehr Wirkliches ist, das es nicht gibt."
Aus dem Spanischen von Lutz Kliche, aus: Ernesto Cardenal: Wir sind Sternenstaub. Neue Gedichte und Auswahl aus dem Werk. Wuppertal: Peter Hammer Verlag, 1993, S. 18-20
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