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Neben dem großen runden 200. gab es gestern noch einen kleinen 30. Jahrestag. Tom de Toys schreibt dazu:
Echte Liebeslyrik als „Erweiterte Sachlichkeit“
Zum 30. Jubiläum der E.S.-Forschung („Erweiterte Sachlichkeit“) erschien jüngst die aktualisierte Neuauflage der Sammlung aller 116 Beispiele für „echte, erfüllte“ Liebeslyrik von Tom de Toys aus den Jahren 1994 bis 2024. Den germanistischen Etikettenschwindel bemerkte De Toys quasi zufällig: zwei Wochen nachdem er das 1.E.S. „WIEDERGEBORENE“ für seine damalige Muse schrieb, fiel ihm auf, dass sogenannte Liebeslyrik meist eigentlich nur Sehnsuchtslyrik ist, auch in seinem eigenen Werk, das damals mit dem kurz zuvor vollendeten 101-teiligen „Ute Uferlos“-Zyklus einen Wendepunkt erreicht hatte. Nach umfangreichen Recherchen stellte sich für ihn heraus: Nur 5% aller sogenannten Liebesgedichte in der deutschsprachigen Literatur seit den Minnegesängen handeln (bis heute!) von der erfüllten Liebe, während der große Rest nur die Sehnsucht nach Liebe oder ihren Verlust und die Vergänglichkeit thematisiert. Sowohl Standardanthologien als auch Einzelgedichtbände werden aber trotzdem mit dem Gütesiegel „Liebeslyrik“ versehen. Nur sehr selten erwähnen Herausgeber im Nachwort eher beiläufig, dass die Liebe zumeist literarisch unerfüllt bleibt. De Toys achtet daher in seinem mittlerweile knapp 3000 Texte umfassenden Werk darauf, ob ein neu entstandenes Gedicht das „direktpoetische“ Dokument einer erfüllten Liebesbegegnung ist oder doch nur über Liebe als ein abwesendes Gedankenobjekt anstatt realer Erfahrung spricht.
Tom de Toys,12.12.1994, 1.E.S.
WIEDERGEBORENE
wir nahmen
uns
in uns
und schauten
in den augen
in den mündern
das beseelte
mich mit dir und
dich mit mir und
hatten hunger
aus winternächten
da wir zwischen
häuser rannten
die den krieg
erinnern wohnen
überall in uns
verblieben
verblieben
Entnommen aus: „ZIELE DER ZÄRTLICHKEIT“ (116 E.S.-Beispiele 1994-2024)
2004 schrieb eine Greifswalder Studentin, Franziska Krüger, eine Hausarbeit „Der richtige Umgang mit Sprache oder: wie geht Sprache mit Liebenden um“ in meinem Seminar „Lyrikgeschichte V: Von Brecht bis zur Gegenwart“. Ein Auszug daraus:
Die Liebeslyriktheorie „Erweiterte Sachlichkeit“ steht für das Entwerfen einer Poesie, die das Erleben, die Wirklichkeit des Menschen, pur wiedergibt. (…) Da Liebe geschieht, sollte auch im Geschehen über sie geschrieben werden, um eine intensive und echte Liebesbegegnung sprachlich so authentisch wie möglich nachzuzeichnen. Die Motivation zum Schreiben ist folglich das Leben selbst, denn ohne jenes gäbe es keine beschreibbare Grundlage. (…) Das Leben selbst steht im Mittelpunkt und es bildet die Grundlage für De Toys‘ Dichtung, sodass er zu dem Schluss kommt, „Direkte Dichtung“ sei immer mit dem direkten, dem eigentlichen Leben in seiner Präsenz verbunden, da der Mensch als Teil der Wirklichkeit sich dieser nicht entziehen kann. (…) Wenn die echte erfüllte Liebeslyrik die Aufdeckung und die Benennung der wahren Gefühle ist, dessen, was in diesem Moment, in der „Gegenwart“, in der „Existenz“, ganz authentisch geschieht, kann der „Kontakt“ wie die „Kommunikation“ mit anderen nur im „Bewusstsein“ all dessen vollzogen werden. (…) Die in manchen Überschriften vorhandenen Klammern ermöglichen viele Lesarten. Außerdem deuten die fehlende Interpunktion sowie die besondere Vortragsweise des Autors darauf hin, daß von den LeserInnen selbst Akzente gesetzt werden sollen, um den potenziellen Bedeutungen des Titels nahezukommen, was durchaus dazu auffordert, weiterzudenken, nachzulesen, eigene Verbindungen herzustellen. Hinzu kommt, dass was im Rausch der Gefühle geschrieben wurde, auch in diesem gelesen werden soll, ohne einengende Regelungen.
Komplett hier: https://poemie.jimdofree.com/liebeslyrik/gastbeitrag-franziska-kr%C3%BCger/
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