Zeit, neue Gedichte zu schreiben

Serhij Zhadan 

(Сергій Вікторович Жадан,  * 23. August 1974 in Starobilsk, Oblast Luhansk, seit 2022 von Russland besetzt)

***

Und wenn sie dich fragen: wozu? –
weißt du nichts zu sagen. Und dennoch,
es ist Zeit, neue Gedichte zu schreiben:
bei den alten Gedichten weint keiner mehr.

Denn die alten Gedichte sind alt geworden,
und die Jugendlichen stehen da wie verhaftet
und warten auf frische Reime,
um erwachsen zu werden und zu leiden.

Denn die alten Gedichte hinterlassen Stille.
Und in dieser Stille machst du keinen Schritt.
Die Dichter gibt es nicht, die ein Gedicht hätten,
um das Leid dieses Jahres zu fassen.

Und die Jugendlichen – abgerissen, rätselhaft –
können sich untereinander nicht einigen.
Wie sollen sie den Klumpen in der Sprache nennen,
den sie immer Liebe nannten?

Wie sollen sie die Verdunklung im Herzen nennen
und das Klingen in der Stille vernehmen?
Die Sterne haben dies Jahr kein Erbarmen.
Es ist Zeit, neue Gedichte zu schreiben.

Denn die alten Gedichte haben keine Kraft mehr,
und die alten Dichter müssen nicht mehr sterben.
Sie haben vergessen, worum man sie bat.
Wer bitte braucht noch ihre Ratschläge.

Die Rhythmik, kleine Schwester der Barmherzigkeit,
kommt ohne Vorwürfe und ohne Not.
Doch wer braucht ein Gedicht über Unsterblichkeit,
wenn es dort dann nichts gibt über ihn.

Lass uns die Dinge von Neuem reimen,
lass uns den Geheimnissen Klang geben.
Alle brauchen neue Dichter,
alle brauchen einen, der Unfug redet.

Unser tiefer Glaube liegt im Klingen.
Unsere Sprache ist leise, gewöhnlich.
Sie hängt am Atem und am Gaumen.
Unwiederbringlichkeit. Ungeduld.

29.03.21

Aus: Serhij Zhadan, Chronik des eigenen Atems. 50 und 1 Gedicht. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Berlin: Suhrkamp, 2024, S. 15f

***

І коли тебе запитають: навіщо? –
не матимеш відповіді. А одначе
час писати нові вірші:
від старих віршів уже ніхто не плаче.

Бо старі вірші стали старими,
і ось уже підлітки, немов арештанти,
стоять і чекають на свіжі рими,
щоби дорослішати і страждати.

Бо зі старих віршів лишилась тиша.
І в тиші цій не ступиш і кроку.
І немає поетів, які б мали вірша,
аби пояснити печаль цього року.

І підлітки – нарвані, загадкові –
не можуть домовитися поміж собою.
І як їм назвати цей згусток у мові,
який вони звикли називати любов'ю?

Як ім назвати це затемнення в серці
і відчуги це звучання в тиші?
Зірки цьогоріч немилосердні.
Час писати нові вірші.

Бо старі вірші вже не мають сили,
і старі поети вже не мусять вмирати.
Вони забули, про що їх просили.
Кому потрібні їхні поради.

Ритміка, юна сестра милосердя,
приходить без докору і потреби.
Але кому потрібен вірш про безсмертя,
якщо там немає нічого про тебе.

Давай знову римувати предмети.
Давай озвучувати таємниці.
Всім потрібні нові поети,
потрібен хтось, хто говорить дурниці.

Наша глибока віра в звучання.
Наша мова – тиха, звичайна.
Залежність від дихання і піднебіння.
Неповернення. Нетерпіння.

29.05.21

Originalausgabe: Скрипниківка (Чернівці: Meridian Czernowitz, 2023) S. 13f

One Comment on “Zeit, neue Gedichte zu schreiben

  1. Liebe Nadi, ich schicke dir nur schnell das Gedicht eines jungen Ukrainers, das ich gerade erhielt und sehr schön fand …

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