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Folgendes mich sofort fesselndes Gedicht heute gelesen:
Nase, etwas Delikates von diesen keusch über die Stirne hochgekämmten Haarpartien, etwas Anmutiges von diesen schwierigen, heiklen und von ihm so elegant gelösten Übergängen von der Unterlippe zum völlig vorzüglichen Kinn und dem langsam sich verlierenden Hals, an dem der Daumen des Meisters im nervösen Streich, von der weiblichen Schönheit entrückt, es sich doch nicht versagen konnte, die erhobene Welle von Mariens Brust anzudeuten.
(Lesen Sie es vielleicht ein zweites Mal). Torso eines Kopfes, nur die Nase, Stirn, „keusch hochgekämmte Haarpartien“, Unterlippe, Kinn und Hals bis zum Brustansatz sichtbar, das nach und nach als Werk eines Meisters sichtbar wird, und zwar als Marienbild. Erst beim zweiten Hinsehen fiel mir aber auf, dass mir eine Unaufmerksamkeit beim Lesen das Prosagedicht nur vorgegaukelt hat. In Wahrheit ist es die zweite Seite eines längeren Prosagedichts, das mitten im Satz vor dem Wort „Nase“ umbrochen wird. Das ganze Gedicht geht über zwei Seiten und hat eine Überschrift, es beschreibt ein Kunstwerk, oder sind es drei Kunstwerke, am Schluss erkennbar als ein Madonnenrelief „des berühmten Baccio“, Baccio Bandinelli (1488-1560), im Privatmuseum der Medici. Ein interessantes, raffiniert gemachtes Gedicht des tschechischen Symbolisten Karel Hlaváček (1874-1898) – aber ich verweile für heute bei dem Fragment, das mir meine Unachtsamkeit für vielleicht zwei Minuten vorgaukelte. Ich finde, ein rätselhaftes, wunderbares Gedicht, ein ganz anderes, „moderneres“ als das tatsächliche Gedicht (welches auch schon „protosurrealistische“ Züge aufweist). Im Fragment wird Kontext weggeschnitten, aber das Stehengebliebene schafft sich seinen eigenen Kontext. Der Torso, in seiner für meine Anmutung konvulsivischen Zartheit, fokussiert auf die Körperlichkeit der Madonna.
Aus dem Tschechischen von Ondřej Cikán, aus: Karel Hlaváček, Spät gegen Morgen. Wien und Prag: Kētos, 2021 (Reihe Symbolismus vom Feinsten), S. 45.
(Foto: KI)
tolles foto! das gedicht fühlt sich seltsam an, ich kann es nicht genauer beschreiben. wenn ich es lese, schwingt noch etwas anderes mit, das mir den text ein bisschen verleidet. vielleicht kriege ich noch raus, was es ist. dennoch danke fürs posten, eine spannende erfahrung beim lesen!
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