Aber der Herr Walther spricht

Der Dichter Uwe Greßmann wurde manchmal ein naiver Dichter genannt, aber das war er nicht. Er, der nicht studieren konnte, hat autodidaktisch die Literaturgeschichte und Philosophie studiert. Seine Gedichte und Briefe legen Zeugnis ab.

Heute ein Gedicht, das er kurz vor seinem Tod schrieb und das damals im kleinen Land DDR nicht publizierbar war. Erst 1982 gelang es Richard Pietraß, es als Kassiber im Anhang einer Auswahlausgabe des schon 1969 gestorbenen Dichters herauszuschmuggeln. Die Freude der aufmerksamen Leser war diebisch. Das Buch erschien in hoher Auflage als Reclam-Taschenbuch zum Preis von 3,50 Ostmark. Greßmann hatte das Gedicht dem tschechischen Lyriker und Übersetzer Ludvík Kundera in einem Brief geschickt. Kundera hat das Augenzwinkern des Dichters sicher genauso goutiert wie wir 13 Jahre später.

Wenige zeitgeschichtliche Anmerkungen voraus. Das Gedicht spricht vom Minnesänger Walther von der Vogelweide und zitiert den mittelalterlichen Sängerkrieg auf der Wartburg: „Herr Walther spricht“. Natürlich wusste jeder, dass es im Mittelalter keine Faustaufführung gab. In der DDR dagegen sehr wohl – die Kulturpolitik hatte zwei gegensätzliche Tendenzen. Eine war die Orientierung an der klassischen deutschen Literatur. Partei- und Staatschef Walter Ulbricht hatte den Faust im Arbeiterbildungsverein studiert – es ging darum, dass die Arbeiter die „Höhen der Kultur“ erstürmen sollten. Ulbricht lernte die Lektion, hielt die Klassik hoch und forderte die jungen Schriftsteller auf, einen dritten Teil des Faust zu schreiben. Der sollte zeigen, wie die DDR die Ideale der deutschen Klassik verwirklichte. Was sie erdichtet und erträumt, wird in der sozialistischen DDR Wirklichkeit, „mit freiem Volk auf freiem Grunde“. Mehrere junge Schriftsteller, darunter Volker Braun und Uwe Greßmann, machten sich sogleich daran. Die Ergebnisse waren nicht so, dass sie damals in der DDR druckbar gewesen wären. – Die andere, gegenläufige Tendenz seit den 60er Jahren bestand darin, die Schranken zwischen den Arbeitern und Bauern und der hohen Kultur einzureißen. Die Arbeiter sollten Bücher lesen und ins Theater gehen und auch selber schreiben und malen. Auf der zentralen Deutschen Kunstausstellung der DDR 1967 wurden auf Geheiß des Staatschefs Arbeiten von Laienkünstlern neben denen der Berufskünstler ausgestellt. Die Künstler und Schriftsteller ihrerseits sollten in die Betriebe gehen und das „echte Leben“ in der sozialistischen Produktion kennenlernen. „Bitterfelder Weg“ hieß das (es kommt im Gedicht vor). – Und dann die Faustaufführung. Als im Herbst 1968 am Deutschen Theater Wolfgang Heinz und Adolf Dresen Goethes „Faust“ inszenierten, saß Ulbricht in seiner Loge. Die Aufführung gefiel ihm aber nicht. So hatte er sich den sozialistischen „Faust“ nicht vorgestellt. Wütend verließ er die Loge. Die Aufführung wurde abgesetzt. „Diesen Faust, den mag ich nicht.“ – Eduard von Winterstein: berühmter Film- und Theaterschauspieler (1871-1961), von der DDR-Führung hochdekorierter Schauspieler am Deutschen Theater in Ostberlin (er erhielt die Nationalpreise von der III. bis hoch zur I. Klasse und den Orden Banner der Arbeit).

Uwe Greßmann, Brief an Ludvík Kundera, 25.3.1969

Da mich gegenwärtig die deutsche Dichtung des Mittelalters bewegt, so bitte ich Sie, gewissermaßen als Gesprächsgrundlage, meine dem größten aller Minnesänger gewidmeten Ausführungen in einigen Punkten anzuhören.

Herr Walther auf der Vogelweide 
in Anbetracht einer Faust-
aufführung
insbesondere ihres ersten Teils


Herr Walther spricht:
Den Faust den mag ich nicht
Der nicht gewaltiglich sich ballt
Und wie von einem Arbeiter
Erhoben hoch hinausstrebt hoch
Ja über Kopfes Höhe! doch!
Und überhaupt: was solls?
Es heißt: die Faust!

Herr Walther bittet daraufhin
Die Vögelein auf der Weiden
Ästen hin und her zu schreiten
Und den Weg nach einem
Bittern Feld ja Bitterfeld* von Rinden
Blättern zu besingen
Zu bepicken

Da plaudern die Kritiker vom Pressebaum
Mit einigen Schauspielern und Zuschauern
Vom Schildaschen Theater
In Anbetracht einer dort aufgestellten Statue

Doch Herr Walther spricht:
Was solls? Ist es nicht
Stahl des Arbeiters der hier
Vorstellt dieses Raumes Zier
So aufgestellt?

O nein! Der Held
Unserer Betrachtungen ist
Herr von Wolken- oder Winterstein
Denn als ein Schauspieler hob er
Wohl den Becher und sagte Worte
Dieses Dichters
Nicht etwa draus zu trinken;
Aber der den Minnesang beendete
Saß er überhaupt im Parkett?,
Da Herr Walther auf einem Steine
Saß und Bein legte auf Beine
Und sprach: Was solls?

Da klatschten die Zuschauer vom Schildaschen Theater
Zunächst in Anbetracht einer die Faust hebenden Dar-
stellerin Beifall

Inzwischen traten die andern Schauspieler im Foyer auf
Eben um an der Faustdiskussion teilzunehmen dem
Ergebnis jener Aufführung
Und bekamen auch was davon ab ja vom Vorhang
Denn der Beifall dauerte noch ein Weilchen
Und das obwohl die Künstler plauderten
Ja die Kritiker vom Pressebaum baten
Die Zensur der Urteilenden lieber fallenzulassen

Doch was hilfts Herr Walther spricht:
Diesen Faust den mag ich nicht
Doch ihr lieben Vöglein auf der Weiden
Baum Wie schön habt ihr den Weg
Nach einem bittern Feld ja Bitterfeld*
Von Rinden Blättern
Besungen und bepickt!

*) Vielleicht einer der zahlreichen von Herrn Walther besuchten
mittelalterlichen Fürstenhöfe, vorausgesetzt, daß
unser großer Dichter dort auf seinen Wanderungen auch
etwas vortrug, seinen fürstlichen Gönner damit zu erfreuen.

Aus: Uwe Greßmann: Lebenskünstler. Gedichte. Faust. Lebenszeugnisse. Erinnerungen an Greßmann. Herausgegeben von Richard Pietraß. Leipzig: Reclam, 1982, S. 196ff

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