Postobskure Dichtung

Liao Yiwu

WORTE

Ich sage, lass die Finger von diesen Gedichten, den Steinen, der Sonne, dem Wasser, den erfundenen Himmeln, ich sage, kümmere dich um die zaghaften Hände. In ihnen ist jedes Schriftzeichen gewachsene Haut, sie stellen sich selbst zusammen, vollenden einen schönen Menschen, ein unerreichtes Meisterwerk, aber bevor sie Mensch und Meisterwerk vollenden, sind sie alt, schwach, hauchdünn.

Als werde Seide zerrissen, sprichst du schweigend einen Vers, als werde ein Stück Haut verletzt, du wirst sehen, wie die Wunde anschwillt, rot, wie sie eitert, größer wird, am Ende verfault dein Idol bei lebendigem Leibe. Das Schöne ist dünn, immer, hauchdünn wie gut klingende Worte, Papier etwa, Schnee, Federn, Seide, Blütenblätter, Wei Li und Fei Fei. Was du besitzen willst, lässt sich nicht besitzen. Hinter der zerstreuten Schönheit Leere, endlose, schweigende Leere, Schönheit ist Leere, blendende Leere.

Ich sage, kümmere dich um die zaghaften Hände!

Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann, aus: Liao Yiwu, Massaker. Frühe Gedichte. hochroth Berlin, 2011, S. 4.

Das chinesische Original erschien zuerst 1993 in Sichuan unter dem Titel „Postobskure Dichtung“.

Liao Yiwu 2023

Liao Yiwu (chinesisch 廖亦武, Pinyin Liào Yìwǔ, * 4. August 1958 in Yanting, Sichuan)

Wegen eines Gedichts über das Massaker auf den Tian’anmen-Platz in Peking im Juni 1989 wurden er und seine schwangere Frau verhaftet, Liao wurde wegen „Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda mit ausländischer Hilfe“ zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. 2011 konnte er über Vietnam nach Deutschland fliehen, wo er seitdem im Exil lebt.

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