Kleines Wohltemperiertes Klavier

Warum hat bislang noch niemand auf die Nähe von Meyers Techniken beispielsweise zur Zwölftonmusik hingewiesen, die mit Mustern des klassischen Kontrapunkts arbeitet? Nicht nur ist darin jeder der zwölf Töne einer Oktave gleichberechtigt – wie im Pangramm „Quizlöß“ alle 26 Buchstaben, drei Umlaute und „ß“ des deutschen Alphabets –, sondern die Themen werden wie bei einer Fuge vorwärts wie rückwärts (‚Krebs‘ genannt) verwendet und jeweils gespiegelt. Der Text „as snow“ wäre in diesem System so etwas wie die Spiegelung des Krebses:

as snow
punos sound
mousse.

Mit diesem „Vertikalpalindrom“ springt der Autor endgültig von der orthographischen zur grafischen Form – da kann man sich wahrhaft auf den Kopf stellen! Wem das zuviel ist, der erfreue sich an Homogrammen, in denen nur Wortzwischenräume und Interpunktion den Unterschied machen: „Language ist / Brauchtum. / Lang u.a. Geist / braucht, um // derbe Steward / zu sein. / Der Beste ward / zu Sein.“

Bertram Reinecke bringt es in seinem Nachwort auf den Punkt: „Wem Palindrome und Anagramme Kreuzworträtseln ähnlich scheinen, der hat im Dunkel das Gesicht des Künstlers noch nicht erkannt.“ Auch Meyers Texte sind nicht nur schlicht ‚gebaut‘. Aus der Ursuppe der Zeichen leuchten da ganz deutlich Witz und der Wille, mit angestammten Mitteln und zeitgemäßer Sprache die Grenzen der Poesie auszuloten. Das ist auch an den beiden abschließenden neunzeiligen ‚Meister-Palindromen‘ abzulesen, deren Akrostichon und Telestichon, also Anfangs- und Schlussbuchstaben der aufeinanderfolgenden Verse, das Wort „Palindrom“ bilden. „Pur ist Sinn Adel“ steht am Anfang – und endet mit „Alle dann ist Sirup.“

Was kritischen Lesern an diesen Gedichten aufstoßen dürfte, ist die Tatsache, dass es darin keinen Ausschuss gibt. Das ‚Material‘ ist stets vollständig anwesend. Das gilt es bei der Lektüre auszuhalten. „Strenge Texte“, sagt Reinecke, seien zwar Kunstwerke, aber immer auch „Dokumente ihrer eigenen Genese: Sie teilen gleichzeitig mit, was unter diesen Bedingungen neben dem Gesagten auch gerade nicht sagbar war.“ Meyers Lyrik mag schwerlich politisch und im Bereich der außersprachlichen Wirklichkeit nur locker verankert sein. Dafür hat er mit „Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung“ dem Anspruch nach ein kleines Wohltemperiertes Klavier gedichtet. / Patrick Wilden: Alpinmord am Polrind: Titus Meyers Palindrome, in: Ostragehege Nr. 78 (Inhalt)

Titus Meyer: „Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung“, Reinecke & Voß Leipzig 2015, 88 Seiten, 10 Euro, ISBN 978-3-942901-15-4

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