Schwänzen erlaubt?

Bettina Hartz bespricht bei Fixpoetry den bei Reinecke & Voß erschienenen Band Mara Genschel Material. Gleich im ersten Satz empfiehlt sie, wir sollten den Band „lieber links liegen lassen“. Eine schöne Alliterationskette, aber ein törichter Rat, meine ich.*

Zunächst weil „der Betrieb“ diese Autorin und ihre seit Jahren unterhaltenen Referenzflächen ohnehin links liegen läßt. Mara Genschels Erstling bekam eine mit dem Kürzel „H.H.“ signierte satirische Abfertigung in der FAZ, sonst sind mir nur Onlinequellen bekannt. Über den Materialband schrieb Michael Braun bei der Zeit und schrieben mehrere Autoren online, habe ich viel übersehen? Die Empfehlung, ein ignoriertes Buch zu ignorieren, läuft seltsam ins Leere. Die Rezensentin bestätigt einfach den Status. Da ist es nur konsequent, daß die Boykottempfehlung online geschieht. Als solle DER BETRIEB nun auch online für Ordnung sorgen. Schweige-, Verschweigeordnung. Wenn es wichtig wär, würde es im gedruckten Feuilleton stehen, nicht wahr?

Schon der Ausdruck „den Literaturbetrieb schwänzen“ kommt der Rezensentin unerlaubt vor, schließlich dürfe man nur die Schule schwänzen, wie sie umfänglich ausführt. Dieser Passus wirkt auf mich etwas komisch. Man kann das Leben schwänzen, die Realität schwänzen, bei Lichtenberg wird die Predigt geschwänzt, bei Schiller ein Ball: wieso nicht den Betrieb? Von der Sprachpolizei verboten? – Sie zeigt ja auch im weiteren Verlauf ihres Artikels, daß sie die Bedeutung verstanden hat – und empfiehlt irgendwie erwachsenere Haltungen, Handke zum Beispiel. Nichts neues, H.H. schon hat es getan: Die erwachsenen Betriebsmahner & -verwalter empfehlen den Heranwachsenden, erst mal so zu werden wie sie selber anscheinend geworden sind oder immer schon waren, man weiß es nicht. Ein bißchen wie Bossong in der „Zeit“.

Bettina Hartz schreibt, Schule könne man schwänzen,

Was aber, wenn einer einer Sache fernbleibt, zu der ihn keine Pflicht ruft und kein Zwang abkommandiert?

Äh, kein Zwang? Meinen Sie das im Ernst? Man muß nicht leben, wußten die Alten, navigieren aber schon. Tausende Schriftsteller und Künstler in diesem Land sind gezwungen, Einladungen anzunehmen oder Bewerbungen zu schreiben und dann einigermaßen angepaßt an die Erwartungen der ein schmales Geld Gebenden zu agieren. Wer Auftritte von Mara Genschel besucht, kann beobachten, mit welch unterschiedlichen Techniken diese Autorin Schwänzen ausübt.** In diesem Jahr zum Beispiel in der Leipziger Lyrikbuchhandlung irgendwann nach Mitternacht und jüngst beim Lyrikmarkt in der Berliner Akademie. Ist es einem Zeitungschreiber oder einer Zeitungsschreiberin aufgefallen? Zweckdienliche Angaben nehme ich gern entgegen. – Dort hätte man auch sehen können, daß ihr Auftreten in diesem Punkt nicht anders als bei Handkes „Publikumsbeschimpfung“ (welche die Rezensentin der Autorin als pädagogisches Beispiel vor die Nase hält) „mehr als Provokation“ ist. –

Bertram Reinecke beschreibt in seinem Beitrag, wie man – wie Mara Genschel – den Literaturbetrieb schwänzt. Ich empfehle das Buch zu lesen, wenn man etwas kennenlernen will, was noch nicht gängige Feuilletonschreibe ist. Wie bei jedem Sammelband muß man nicht jeden Beitrag lesen, wer z.B. Statistiken zu trocken findet: weiterblättern. Wir haben immer eine Wahl. Alles ist besser als nur das schon Gebongte und Durchgekaute entgegenzunehmen.

Bertram Reinecke (Hg.): Mara Genschel Material
Mit Beiträgen von Luise Boege, Ann Cotten, Michael Gratz, Martin Schüttler und Meinolf Reul.
Reinecke & Voß
100 Seiten · 12,00 Euro
ISBN: 978-3-942901-14-7

*) Ja, obwohl (nicht weil) ich selber in dem Band vertreten bin.

**) Bettina Hartz‘ Text scheint zu behaupten,  Mara Genschel hätte eine Lesung mit bloßem „ins Publikum Starren“ bestritten. Hab ich anders erlebt, kann ich nicht glauben. Sie?

2 Comments on “Schwänzen erlaubt?

  1. Pingback: Gegenkritik « Lyrikzeitung & Poetry News

  2. Wie der Betrieb funktioniert, kann man hier sehen: http://www.fixpoetry.com/fix-zone/2015-08-30/eine-zweite-unmittelbarkeit
    Ein (das meine ich rein deskriptiv) im „Mittelfeld“ agierender Autor wird aufgrund persönlicher Kontakte und dem Verdacht, er schreibe irgendwie noch „realistisch“ oder verständlich (zugleich ist er durch seine Publikation bei kookbooks und bestimmte lyrische Verfahren des unkommentierten Hintereinandersetzens von Bildern gefeit vor „Naivität“) in den Großverlagstand gestemmt. Da dann erst packt auch das Feuilleton zu und verfasst einen typischen, akademisch angereicherten Schwurbel zu den meist eher kauzig-assoziativ zusammencollagierten Texten des Autors und bedenkt ihn mit einigen freundlich-zunickenden Worten. der Rest ist Formsache: der lange auf Preise Wartende wird dann demnächst auch die überfälligen Laudatinen bekommen.

    Ganz ehrlich: bei so manchen Performances der „Literaturbetriebsverweigerin“ Genschel wusstte ich auch nicht, wohin schauen vor Verlegenheit, wenn sie so ins Publikum starrte … nicht einmal nur, weil es irgendwie unangebracht schien, übertrieben, sondern weil sie andererseits auch sehr richtig mit diesem crazy Amateurtum mich (und die anderen) bei der viel abgefuckteren Professionalität packte und sie bloß stellte. Jedenfalls hundert mal lieber ist mir dies, als jener Phrasenbetrieb wie oben dargestellt. Allerdings möchte ich der Autorin in ihrer Schelte insofern nachgehen, als dass darüber nachdenke, ob nicht manche Kritik am Betrieb etc (wie zum Beispiel Reinecke) den eigenen Diskursanspruch (und damit ja auch Machtanspruch, so sehr er sich auch in seiner kleinen Mönchstumcamouflage davon ausnehmen möchte) offensiver zu vertreten und so Ressentimentvorwürfen zuvorkommen sollte

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