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Der chinesische Lyriker Yang Lian im Interview mit der Deutschen Welle (Sabine Peschel):
2011 bin ich das letzte Mal mit Zensur konfrontiert worden, als mein autobiographisches Gedicht in Buch-Länge, „The Narrative Poem“, nur einen Tag in chinesischen Buchläden überlebte. Alle 3.000 Ausgaben wurden zurückgerufen und zerstört.
Aus welchem Grund?
Das geschah aufgrund eines Teils des Gedichts: ein eigenständiges, kürzeres Gedicht mit dem Titel „Reality Elegy“. Ich konnte es mir darin nicht verkneifen, über das Tian’anmen-Massaker zu schreiben. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben, aber auch einer für die Entwicklung der chinesischen Kultur der letzten Jahre. Es ist immer noch ein Tabu, darüber zu sprechen, wie die Regierung im Juni 1989 die demokratische Bewegung niederschlug und ein Massaker anrichtete. Deshalb schaute die Regierung sehr genau auf das Gedicht. Der Verlag „Huaxia“ wurde von der Regierung abgemahnt und damit ist dann leider auch auch das Buch gestorben.
Wie viele Bücher konnten Sie retten?
Ich erhielt etwa 25 Kopien vom Verlag. Das war aber nur der erste Akt für mich. Etwa eine Woche lang war ich traurig. Aber dann überlegte ich mir, dass ich eben die Bedeutung dieser Geschehnisse in meinem Leben und in der Literatur einordnen wollte. Ich wollte über Tian’anmen schreiben, auch, wenn ich darüber auf sehr poetische Art und Weise schrieb. Wäre das Buch veröffentlicht worden und niemand hätte daran Anstoß genommen, dann hätte ich mir Sorgen machen müssen. Demnach war die Tatsache, dass das Buch verboten wurde, eine Bestätigung der Wucht und der Ausdruckskraft der Dichtkunst. Das zeigte auch, dass selbst in einer Zeit, von der gesagt wird, dass niemand Gedichte liest, Menschen dies eben doch tun.
Dann wurde mein verbotenes Buch in Hongkong, Singapur, Taiwan und in Übersee veröffentlicht. Und nun sogar in China. Man kann das Gedicht kostenlos im Internet herunterladen.
Also kann man sagen, dass Gedichte subversiv wirken können?
In China ist Lyrik immer noch extrem wichtig. In der chinesischen Kultur genauso wie im sozialen Leben in China.
Warum ist das so? Lesen die Leute viele Gedichte in China?
Ja, das tun sie. Als ich beispielsweise 2012 von der Webseite artsbj.com gefragt wurde, deren künstlerischer Leiter zu werden, habe ich vorgeschlagen, einen Online-Poesie-Wettbewerb ins Leben zu rufen, der offen ist für jede Art chinesischer Lyrik. Wir bestimmten ein internationales Komitee und besetzten die Jury mit sieben bekannten chinesischen Dichtern. Doch niemand hatte damit gerechnet, dass mehr als 80.000 Einsendungen innerhalb von einem Jahr unser Postfach überfluten würden. Und an jedem guten Gedicht hingen noch 30 bis 40 Seiten Kommentare. Das war schon fast wie ein Poesie-Festival, das ein Jahr andauert.
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