Religiöses Buch wider Willen

Ulf Stolterfoht, der bekannteste und umtriebigste Aktivist der experimentellen Poesie in Deutschland, hat ein religiöses Buch wider Willen geschrieben. Diese Feststellung ist für die Apologeten der reinen Lehre des experimentellen Gedichts sicher ein Sakrileg ersten Ranges. Und der Autor selber, das darf man unterstellen, wird über eine solche Lesart seines langen Gedichts „neu-jerusalem“, die von einer gewissermaßen unfreiwilligen Sakralisierung des poetischen Stoffs ausgeht, nicht sonderlich glücklich sein. Hat er doch an vielen Stellen seines Gedichts die einschlägigen Warntafeln aufgestellt und reichlich ironische Konterbande eingestreut, um eine naive Rezeption abzuwehren und die religiösen Strahlungen des Stoffs im Zaum zu halten. 

Erst kürzlich hat ein kluger Exeget seiner Gedichte noch einmal die Prämissen jedweder Stolterfoht-Interpretation zusammengefasst. Stolterfohts Dichtung, so resümierte Daniel Graf in „Sprache im technischen Zeitalter“ (Heft 212, 2o14), interessiere sich vorwiegend für die instabilen Verhältnisse zwischen den Wörtern und ihren Bedeutungen; und sie arbeite stetig an einer Auflösung aller festen semantischen Bindungen. Für den Dichter sei es ein großes Sprach-vergnügen, den Transformationen und Kollisionen der Wörter bei ihrer Übersetzung in eine andere Sprache zuzusehen und auch aus Zufallseffekten Poesie zu generieren. Und auch Stolterfoht selbst hat schon häufiger gefragt, ob „Fehler-haftigkeit womöglich eine Existenzbedingung“ für die Poesie darstellt. All diese sprachkritischen Überlegungen passen aber nicht so recht zu „neu-jerusalem“. / Michael Braun, Signaturen

Ulf Stolterfoht: neu-jerusalem. Gedicht. Kookbooks Verlag, Berlin 2015. 104 Seiten, 19,90 Euro.

15 Comments on “Religiöses Buch wider Willen

  1. Nö, Krachschlagen war es noch nicht, aber etwas übertrieben für so einen harmlosen von mir dahergesagten Satz. Meine Kritik an der Vorjury-Annonce war eigentlich nicht der Rede wert, da in der Annonce ein Schreibfehler passiert war, der es so aussehen ließ, als seien nur acht von elf herausgestochen.
    Wenn du es genau wissen willst: Ich finde auch, dass manche Juroren hin und wieder danebengehauen haben, z.B. Sibylle Cramer bei Levin oder Kurt bei Walter. Doch das ist einer der Gründe, warum es noch vier weitere gibt. Für Levin tut es mir halt sehr leid. Dass ich ihm einen Preis gegönnt hätte, schrieb ich schon auf Facebook.
    Was mich nervt, sind diese Verschwörungstheorien, bei denen so getan wird, als hätte Kurt die totale Macht in der Jury und Özlem und mir somit zu den Preisen verholfen. Das ist schlichtweg Blödsinn.

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  2. Wenn meine Replik auf Deine wildspekulative Anmerkung schon als Krachschlagen aufgefasst wird … puh. Mir gehts nicht um Krach. Vor dem Wettbewerb hast Du Dich in diesem Forum (s.o. Link) kritisch gegenüber der Vorjury-Annonce geäußert, nach Erhalt des Preises gabs dazu nichts mehr von Dir. So ein Verhalten empfinde ich als opportunistisch. Jede Befürchtung, die ein Opportunist über anderer Leute Handlungsweisen äußert, könnte er, fürchte ich, auch genauso gut nicht äußern. Darum geht es (mir zumindest), und nicht darum, wer vor zwei Monaten ein Preisschildchen aufgeklebt bekommen hat und wer nicht.

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    • Ich finde, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun: „Eure“ gemeinsame Wettbewerbserfahrung in Darmstadt (wobei „gemeinsam“ da auch in Anführungsstriche zu setzen wäre) mit deinem Peinlichkeits-Statement.

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  3. @ David: Jemandes Aussage im Kontext eines Posting-Kommentars als Ironie oder Ernst darzustellen, das erfordert eine recht präzise Kenntnis dieses Menschen. Die hast Du hinsichtlich meines Charakters nicht, also bist Du auf einen kurzen Wettbewerbseindruck und im übrigen auf Spekulation (oder Gerüchte) angewiesen, und markierst das performativ: „Ich fürchte ja, […]“. Der andere Punkt ist wesentlicher.

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    • Mach Dir doch lieber Gedanken darüber, ob Du nicht nach dem Wettbewerb ein Prozedere öffentlich hättest thematisieren können, dass Dir vor dem Wettbewerb ganz und gar nicht gepasst hat: https://lyrikzeitung.com/2015/02/20/71-sucht-seit-36-jahren-einen-brecht/ , und ob und das nicht verdienstvoller gewesen wäre, als auf Milautzckis Kritik an der Juryentscheidung zu reagieren und eine diffuse Vermutung über meinen Charakter zu äußern. Das eine ist unsouverän und das andere uninteressant.

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  4. Stimme Axel Kutsch zu. Ulf for Büchner. Dann wird der Preis nicht dauernd an peinliche Reaktionäre verliehen. Wär eine echte Aufwertung.

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  5. sehr einverstanden. ich finde auch, daß die 2 oder 3 kursierenden etiketten wie „experimentell“, „reallyrik“, „neobiedermeier“ der vielfalt nicht gerecht werden und das feld unnötig einengen und bandagieren. suche sich jeder leser was ihm passendes raus. und mögen die matadore des preis- und kritikbetriebs weite und vielfalt gewinnen.

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  6. Experimentell oder nicht, Ulf Stolterfoht schreibt eine sprachartistische Lyrik, die Seite für Seite Vergnügen bereitet. „fachsprachen“, vor allem „holzrauch über heslach“ und jetzt „neu-jerusalem“ – so wunderbar vital, mitreißend, unangestrengt kann die bei weitem nicht nur neobiedermeierliche deutschsprachige Lyrik unserer Tage sein. Für mich gibt es da nur eine Entscheidung, die über den Leipziger Buchpreis hinausreicht: Büchnerpreis für Stolterfoht.

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