So schwer wie Gott ist das Gehirn

Ihre Zurückgezogenheit war der Schutz eines freien, wissbegierigen und schöpferischen Geistes, der sich nicht nur der Natur öffnete und Seelenzustände genau erforschte, sondern sich für Ökonomie ebenso interessierte wie für Naturwissenschaften – und für die politischen Ereignisse ihrer Zeit: Der amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) war eines der Themen, mit dem sie sich auf ihre oft überraschende Weise auseinander setzte.

Inmitten einer Umgebung, die für einen Freigeist, zumal einen weiblichen, oft erstickend gewesen sein muss, fasste die heimliche Agnostikerin Emily Dickinson ihre Gedanken in ebenso heimliche Verse, die sie selbst zu kleinen Heften band und bis auf wenige Ausnahmen niemanden sehen ließ.

Ein Gedicht über das menschliche Gehirn zum Beispiel, das 1863 entstand, hätte sie damals nicht veröffentlichen können, ohne einen Skandal mit weitreichenden Folgen heraufzubeschwören.

„Mehr als der Himmel fasst das Hirn“ beginnt es und deutet in lyrischer Kürze und Eleganz die intellektuellen, emotionalen und sinnlichen Fähigkeiten des Menschen; um am Ende zu behaupten:

„So schwer wie Gott ist das Gehirn –
Hebst du sie – Pfund um Pfund-
Sind sie verschieden – allenfalls-
Wies Laut und Silbe sind“

/ Katharina Döbler, DLR

Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte
Herausgegeben und übersetzt von Gunhild Kübler
Hanser Verlag, München 2015
1408 Seiten, 49,90 Euro

The Brain — is wider than the Sky —
For — put them side by side —
The one the other will contain
With ease — and You — beside —

The Brain is deeper than the sea —
For — hold them — Blue to Blue —
The one the other will absorb —
As Sponges — Buckets — do —

The Brain is just the weight of God —
For — Heft them — Pound for Pound —
And they will differ — if they do —
As Syllable from Sound —

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