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Es gehört zu den Vorzügen guter Literaturzeitschriften, dass sie sich nicht andächtig vor dem literarischen Kanon verneigen, sondern ihn mit guten Argumenten ins Wackeln bringen und aus veränderter Perspektive neu ordnen. Dafür liefert die neue, großartige Ausgabe der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ ein besonders markantes Beispiel. Erst kürzlich wurde „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr für seine langjährigen Verdienste um die Erschließung der zeitgenössischen Weltliteratur das Bundesverdienstkreuz verliehen. Tatsächlich sind die „Schreibheft“-Dossiers immer aufregende Expeditionen in unbekanntes Gelände, in jedem Heft wird ein neuer literarischer Kontinent, ein Autor oder eine literarische Gruppe in deutscher Erstübersetzung kartografiert. In der aktuellen Nummer 84 des „Schreibhefts“ wird zunächst ein literarischer Denkmalsturz vollzogen, um dann neue aufregende Strömungslinien der zeitgenössischen Dichtung freizulegen. Das erste Opfer der herben „Schreibheft“-Attacke ist der polnische Dichter und literarische Kosmopolit Adam Zagajewski. Welche literarische Wertschätzung der Weltbürger Zagajewski international genießt, verdeutlicht zum Beispiel die soeben bekannt gewordene Auszeichnung mit dem Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste. Völlig zurecht verweist die Jury auf den Umstand, dass sich in Zagajewskis von metaphysischer Unruhe geprägtem Werk Poesie, Theologie und Philosophie verbinden zu einer Dichtung, die „das Sein im Ganzen fühlbar macht“.
Das neue „Schreibheft“ geht nun eher ungnädig mit Zagajewski um. Die Schriftstellerin Esther Kinsky hat hier ein Dossier mit neuer polnischer Lyrik zusammengestellt, in dem Zagajewski nur noch die Rolle des „Erhabenheitshüters“ spielt, dessen hoher Ton und Pathos ernüchtert werden muss. Die von Esther Kinsky vorgestellten Autoren sind zwischen 1968 und 1975 geboren und gehören einer Generation an, die allen Utopien den Rücken gekehrt hat und das nationale Pathos aushebelt mit Gedichten, die den rauen Alltag mit seinen unheimlichen Rätseln ins Zentrum stellen. „Dinge und Fakten haften von selbst aneinander“, heisst es in einem Gedicht von Dariusz Sosnicki, der seine Texte als „zweideutige Prophezeiungen“ versteht. Das „offene Gedicht“ der neuen polnischen Dichtung fordert eine Abkehr von dem alten Modell des politisch engagierten Gedichts, wie es Autoren wie Czeslaw Milosz und eben Adam Zagajewski verkörperten. Vorbildfunktion für die polnischen Dichter haben nunmehr die Lyriker-Kollegen der sogenannten New Yorker Schule, namentlich Frank O`Hara und John Ashbery, weil diese, wie es Jacek Gutorow sagt, „so hervorragend Zustände der Unsicherheit und Uneindeutigkeit beschreiben“, im Unterschied zur moralischen Selbsterhöhung eines Czeslaw Milosz. Dass zwischen den polnischen Adepten des offenen amerikanischen Gedichts und den Gralshütern der poetischen Tradition ein kleiner Kulturkampf entbrannt ist, dokumentiert auch die Debatte über die polnische Gegenwartslyrik, die im „Schreibheft“ abgedruckt ist. / Michael Braun, Poetenladen
Schreibheft 84
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 196 Seiten, 13 Euro.
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