56. Gestorben wird immer

Eine Freundin schreibt mir:

Hallo Michael, wenn ich Deine GESTORBEN-Meldungen lesen, krieg ich jedesmal einen Schreck, für einen Blitzmoment lese ich da meinen eigenen Namen und denke gleichzeitig, wie oft wirst Du das noch lesen, bis andere es lesen, diesmal bist du gemeint. Dieses „Gestorben“ kann einen ziemlich vergruseln (und ist deshalb schnell wegzuklicken, zu löschen), hat auch etwas Serielles, vielleicht wäre es doch besser, als gewissermaßen Ehreerweis für den Verstorbenen, stets neu eine andere Formulierung zu finden. Nur so 1 Gedanke.

Der Gedanke ist mir nicht fremd, obwohl mich die Überschrift ihrer Mail etwas kränkte. Gestorben für wen? stand da und ich halte es für ein bißchen ungerecht, weil ich ja gerade versuche, auch Informationen und Namen zu bewahren, die nicht in die Kurznachrichten der Zeitungen finden. Außerdem ist sie jünger als ich und wenn es nach der Ordnung geht, wird sie ihren Tod nicht im Lyrikblättchen lesen. Vielleicht erweist ja sie mir den Dienst und schreibt dann eine letzte Meldung: „Gestorben. Der Gründer dieses Blattes vom digitalen Zeitungsbaum ist vorgestern leider im Alter von 98 Jahren gestorben.“ Aber das ist noch eine Weile hin.

Nein, der Gedanke ist mir nicht fremd. Manchmal schreibe ich den Namen dazu, oder setze ein †. Beim Tod des polnischen Sängers Czesław Niemen rettete ich mich ins Polnische und schrieb: Niemen nie żyje. Aber wenn ich zum Beispiel das nehme, wird es auch schnell eine Rubrik. Gestorben wird immer. Gestorben, verdorben, dichten die Dichter, und Frau Marthe Schwertlein möcht ihren Mann auch tot im Wochenblättchen lesen. Was meinen die Leser meiner Nachrichten dazu? Irgendein Vorschlag?

(Während ich das schreibe, weiß ich, daß drei Todesnachrichten seit Tagen im Portfolio warten. Ich hatte diese Woche wenig Zeit. Und jetzt bloß nicht die Recherchemaschine anwerfen, damit die Nachricht kein Großraumgrab wird.)

2 Comments on “56. Gestorben wird immer

  1. »[…] im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat die bürgerliche Gesellschaft mit hygienischen und sozialen, privaten und öffentlichen Veranstaltungen einen Nebeneffekt verwirklicht, der vielleicht ihr unterbewußter Hauptzweck gewesen ist: den Leuten die Möglichkeit zu verschaffen, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen. Sterben, einstmals ein öffendicher Vorgang im Leben des Einzelnen und ein höchst exemplarischer (man denke an die Bilder des Mittelalters, auf denen das Sterbebett sich in einen Thron verwandelt hat, dem durch weitgeöffnete Türen des Sterbehauses das Volk sich entgegen drängt) – sterben wird im Verlauf der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt. Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. (Das Mittelalter empfand auch räumlich, was als Zeitgefühl jene Inschrift auf einer Sonnenuhr von Ibiza bedeutsam macht: Ultima multis.) Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut. Nun ist es aber an dem, daß nicht etwa nur das Wissen oder die Weisheit des Menschen sondern vor allem sein gelebtes Leben — und das ist der Stoff, aus dem die Geschichten werden — tradierbare Form am ersten am Sterbenden annimmt. So wie im Innern des Menschen mit dem Ablauf des Lebens eine Folge von Bildern sich in Bewegung setzt — bestehend aus den Ansichten der eigenen Person, unter denen er, ohne es inne zu werden, sich selber begegnet ist —, so geht mit einem Mal in seinen Mienen und Blicken das Unvergeßliche auf und teilt allem, was ihn betraf, die Autorität mit, die auch der ärmste Schächer im Sterben für die Lebenden um ihn her besitzt.«
    Walter Benjamin: Der Erzähler, 1936.

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  2. Hallo Michael, lass Dich von der Überschrift nicht kränken. Im Persischen gibt es darauf eine schöne Antwort: Er/Sie hat sein/ihr Leben Ihnen geschenkt (als Euphemismus für gestorben).
    Vermutlich werden deutsche Leser diese harmlose Formulierung prompt als Vorwurf auffassen, deshalb würde ich beim Gestorben bleiben. Sterben gehört doch zum Leben, die Tabuisierung ändert auch nichts dran. Also genießen wir das Leben, so lange es uns erhalten bleibt, und wünschen uns weniger Todesnachrichten.

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