Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan in der Neuen Zürcher Zeitung, Auszug:
Erstaunlicherweise lösen selbst die tagtäglichen Berichte über das Eindringen von russischen Panzerkolonnen auf ukrainisches Territorium und die Gefangennahme russischer Armeeangehöriger keinen Schock und keine Angst mehr aus. Das Land findet sich langsam damit ab, dass es in einen richtigen Krieg gezwungen worden ist. Und das friedliche Leben im Hinterland ist nur eine vorübergehende Zuflucht vor dem, was sich im Osten abspielt.
In den Städten sieht man mehr und mehr Wahlplakate. Die Vertreter der gestürzten Macht haben sich von den Ereignissen des Frühjahrs erholt, formieren sich neu und werden bei den Wahlen antreten. Die Aktivisten begleiten immer neue Freiwilligeneinheiten an die Front. Immer neue Flüchtlinge strömen in die Städte und sorgen dort für immer grössere Missstimmung. Von meinen Bekannten im Donbass ist kaum einer noch dort. Die Kontaktaufnahme mit denen, die geblieben sind, ist beinahe unmöglich. Ich habe eine Bekannte in Charkiw gefragt, wie es ihren Eltern gehe. Sie antwortete, sie seien in Luhansk geblieben, hätten sich aber schon fast zwei Wochen nicht gemeldet und sie wisse nicht, ob ihre Eltern noch am Leben seien. Also nehme ich mit einem Freund Kontakt auf, der im Donbass geblieben ist und sich manchmal per Mail meldet. Ich bitte ihn, bei der angegebenen Adresse vorbeizugehen und zu schauen, ob die Eltern meiner Bekannten noch am Leben sind. Der Freund schreibt zurück, er wolle es versuchen, es sei aber ziemlich schwierig, die Nachbarorte seien schwer erreichbar, man könne sich kaum frei bewegen, Privatautos würden ohne Vorankündigung beschossen. «Hier ist Krieg», schreibt er. Er sieht alles mit eigenen Augen, er weiss, wovon er redet.
Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk in der Ostukraine geboren, gehört zu den prägenden Figuren der jungen ukrainischen Literaturszene. Zuletzt erschien 2012 bei Suhrkamp der Roman «Die Erfindung des Jazz im Donbass». – Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe.
Neueste Kommentare