2. Dostojewskij als Poet

Von Felix Philipp Ingold

Die „Lyrikzeitung“ ist für manches gut, vielleicht auch mal für eine Entdeckung aus vergessenen Archivbeständen. Niemand weiss mehr (oder würde auch bloss vermuten), dass Fjodor Dostojewskij, Klassiker der russischen Erzählkunst und Erfinder der „Roman-Tragödie“, ein gewiefter Verseschmied war. In seinen Tagebüchern und Arbeitsjournalen finden sich, über viele Jahre verstreut, immer wieder kleine gereimte Gedichte, die in keiner Weise zu seinen dramatischen sozialkritischen Stoffen und philosophischen Exkursen passen, die aber womöglich als humoristische Kontrapunkte dazu gedacht waren. Die meist nur einstrophigen Gedichte sind noch nie gesammelt und bisher auch nicht übersetzt worden – ausgenommen ein paar Verse, die Dostojewskij dem verrückten Hauptmann Lebjadkin (im Roman „Dämonen“) in den Mund beziehungsweise unter die Hand gelegt hat. Auffallend ist die sonst bei Dostojewskij nicht zu beobachtende Neigung zu sexuellen Anspielungen, die sich da und dort zu ironisch-lyrischer Pornographie verbinden können – wie beispielsweise in dieser ungedruckt gebliebenen Strophe aus den Entwürfen zu den „Dämonen“ (1873):

Gestatten Sie, das ist mein liebender Erguss,
Geruhn Sie meinen Antrag zu erhören,
Auf dass rechtschaffenen Genuss
Ein andres Glied mir wird bescheren.

Verse dieser und ähnlicher Art sind in Dostojewskijs Arbeitsjournalen keine Seltenheit, doch kaum etwas davon findet sich wieder in seinem publizierten Werk eingegangen. Interpreten und Kritiker scheinen sie bis heute (falls sie davon überhaupt Kenntnis haben) für peinlich oder schlicht für überflüssig zu halten. Es ist an der Zeit, diesen (zugebenermassen marginalen) Teilbereich von Dostojewskijs Schaffen aufzuarbeiten.

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