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Während durch die Kanäle des Bleutge’schen lyrischen Ichs Naturbilder und -töne im Wechsel mit Zivilisationsresten hindurchfließen, treibt Ron Winkler in seinem jüngsten Band „Prachtvolle Mitternacht“ ein vergleichbares Spiel mit dem Ich, wenngleich mit anderem Fokus. Seine Gedichte sind nicht selten Sammelbecken für Zitate und poetologische Prämissen der lyrischen Tradition, von denen es sich in der Auseinandersetzung gleichwohl wieder abzustoßen gilt.
Winkler demonstriert das gleich mit dem ersten Gedicht des Bandes eindrucksvoll: „Prospekt“ ist regelrecht gespickt mit Anspielungen an die Gedichte von Paulus Böhmer („kein Kaddisch“), Jan Wagner („Australien“), Uljana Wolf („nur vielleicht noch ein bißchen Aufwachraum“), Daniela Seel („eine wiedergefundene Stelle“), Paul Celan („das Schwielentheater östlich von Paul Celan“), Gertrude Stein, und darin einmal mehr Celan („sagen: ich bin gezählt. / aber und ist eine Rose und also mehr als eine Rose und also zugleich keine Rose mehr, nicht mehr. und auch: nie mehr: nie mehr nicht), wiewohl nicht selten in der Verneinung. Auch in Winklers Gedicht bleibt das Ich weitgehend im Hintergrund, eingehüllt in das Gewirr fremder Stimmen und damit lustvoll experimentierend wie ein Kind mit den Kostümen aus einer riesigen Verkleidungskiste, irgendwo hängend zwischen Bejahung und Verneinung und Bejahung der Verneinung, und, wir wissen ja: „Minus und Minus ergibt wieder Plus“. (…)
Ruhiger, gesetzter, weniger diskurspoppig geht es in „Anaptyxis“ von Àxel Sanjosé zu. „Anaptyxis“ bezeichnet den Einschub eines kurzen Vokals zwischen Konsonanten, um ein Wort leichter aussprechbar zu machen – der Titel ist also schon ein erster Hinweis darauf, wie die Gedichte des Bandes zu lesen sein könnten. Man kann sich meditativ in sie hinein versenken, über „Rätsel“ nachdenken, oder immer wieder vor dem inneren Auge und in der Vorstellungskraft die folgenden Verse wiederholen: „Falten Sie dieses Blatt / unendlich oft. // Es verschwindet. // Entfalten Sie es anschließend / unendlich oft“ und darüber den meditativen Charakter der Lyrik ebenso wahrnehmen wie den unendlichen Hallraum der (poetischen) Sprache. Auch über das Ich in Sanjosés Gedichten kann man länger sinnieren; es scheint zunächst eher unspektakulär, wird aber bei genauerem Hinsehen immer facettenreicher, fremder, sogar gespenstisch: „Halbselbst / und nichts mehr trübt / die Außenheit / der ich, die ich / betäubt und unheilbar / selbstähnlich / niederkniet / blüht aus. // Lösch das Wasser in mir, / diese Unheit“.
/ BEATE TRÖGER, Literatur München
Àxel Sanjosé: Anaptyxis. Gedichte. Aachen: Rimbaud 2013, 56 Seiten, 12,00 Euro.
Ron Winkler: Prachtvolle Mitternacht. Gedichte. Frankfurt am Main: Schöffling 2013. 96 Seiten, 18,95 Euro.
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