95. Sprossvokale

Der zweite Teil des Buches ist, wenn man so will und wie das Sonettgedicht schon angedeutet hat, der Form gewidmet, der in Struktur verfestigten Vergangenheit also, die zuweilen, wenn man sich allzu sklavisch an sie hält, zum Gefängnis werden kann, wie wir aber am Sonett schon sahen, findet Sanjosé einen produktiven Umgang mit der Überlieferung und das, was an ihr Information ist, kostet er aus, das tote Holz aber lässt er ruhig weiter verrotten. Im besten Fall wird es zum Humus für spätere Versuche. In diesem Kapitel steht an vorletzter! Stelle ein Epitaph, das ich hier gern zitieren möchte:

GRAB=SCHRIFT AVF IHN SELBST

DANN SATTLE ICH MEIN LINDENBOOT
DANN PUTZ ICH MEINEN SILBERKNA
VF DANN LEGE ICH MEIN WELTTVCH
VM VND GEHE BILLIG IAGEN

Im letzten Teil, dem ohne Titel, präsentiert Sanjosé im Grunde Naturgedichte. Aber diese Naturgedichte sind sich der sprachlichen und politischen Verfasstheit ihres Gegenstandes sehr wohl bewusst und natürlich spielt der Autor hier mit seiner Zweisprachigkeit. Ein Gedicht zum Beispiel heißt Holundersirup und der Autor gibt an, dass es aus dem Katalanischen übersetzt ist. Holunder, und auch der aus den Blüten gewonnene unglaublich schmackhafte Sirup ist aber eher mit Mittel-und Osteuropa verbunden, diesen Sirup konnte ich selbst zuerst in Ostbayern genießen. Im Gedicht heißt es:

Schließ nicht die Augen.
Die Türme existieren nicht.
Wenn du verrückt werden musst,
wirst du es ohnehin werden.

Àxel Sanjosé ist etwas Überraschendes gelungen. Auf knappen Raum präsentiert er in diesem Band Gedichte, die trotz konzeptioneller Stringenz eine außerordentliche Vielfalt erzeugen, vielleicht nach dem Vorbild der Sprossvokale.

/ Jan Kuhlbrodt, Signaturen


Àxel Sanjosé: Anaptyxis. Gedichte. Rimbaud Verlag Aachen 2013. 49 S. 12,- Euro.

One Comment on “95. Sprossvokale

  1. Nur zu der Grabschrift: Sie erinnert mich unwillkürlich an die „Siebzig Grabsteine“ des in Paris lebenden iranischen Dichters Yadollah Royai, von Arash Joudaki ins Französische übersetzt: http://livre.fnac.com/a2848386/Yadolah-Royai-Septante-pierres-tombales
    Als wichtigster Vertreter der sogenannten „Lyrik des Volumens“ (sche’re hadschm) widmete er diese Epitaphe in freien Versen bedeutenden zeitgenössischen und historischen Gestalten. Eine Kurzbiographie und Beispiele seiner Lyrik gibt es hier: http://www.m-e-l.fr/,ec,227

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