67. Wir alle wollen Freiheit

Safiye Can im eXperimenta Gespräch mit Rüdiger Heins  über die aktuelle Lage in der Türkei

„De facto ist die Türkei ein Polizeistaat. Führten wir dieses Gespräch in der Türkei,
würde man uns verhaften und eXperimenta müsste schließen.“

eXperimenta: Frau Can, wie schätzen Sie die augenblickliche Lage in derTürkei ein?

Safiye Can: Die momentane Lage ist sehr explosiv. Die türkische Bevölkerung ist in zwei verfeindete Lager geteilt. Erdoğans aggressive Wortwahl und seine Borniertheit hat die Wut der Menschen auf ihn und seine Partei gesteigert. Erdoğans Anhänger helfen der Polizei, indem sie mit Schlagstöcken und Macheten unbewaffnete Demonstranten jagen. Der Polizei kommt das gelegen. Die Widerständler sind aber nicht einzuschüchtern und sie sind sehr kreativ. Eine ihrer Waffen ist die Ironie. Ironie setzt Intelligenz voraus.

eXperimenta: Welche Gründe gibt es, dass so viele Menschen in der Türkei gegen die Regierung demonstrieren?

Safiye Can: Es gibt sehr viele Gründe. Eben dies sorgte dafür, dass Menschen, die sich normalerweise aus dem Weg gingen oder sich untereinander bekriegten, heute Seite an Seite Widerstand leisten. Verfeindete Fußballmannschaften laufen Arm in Arm, Konservative laufen neben Transsexuellen, Atheisten und Muslime zeigen einander mehr Respekt. Aufgrund der Notsituation haben die Menschen mehr denn je Verständnis füreinander. Zeitweise hatte ich das Gefühl, meine Kurzgeschichten werden wahr. Wie unterschiedlich die Menschen auch sind, sie haben am eigenen Leib erfahren müssen, was es bedeutet, wenn die Freiheit eingeschränkt wird und wie manipulativ Medien tatsächlich sind. Die Menschen wollen ihre Freiheit, wir alle wollen sie. Dazu gehört nun einmal auch die Meinungsfreiheit. Der Ministerpräsident Erdoğan hat sich viel zu viel erlaubt und allzu viel haben die Menschen erduldet. Dann reichte bloß noch ein Tropfen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Dieser Tropfen war die unverhältnismäßige Gewalt der Polizei gegen friedliche Demonstranten im GeziPark, die den Park behalten und die Gründung eines Einkaufszentrums verhindern wollten. Eine Frau wurde aus nächster Nähe mit einer Gaspistole attackiert, Menschen wurden im Schlaf mit Gaspatronen angegriffen und ihre Zelte wurden in Brand gesetzt. Dieses brutale Vorgehen trieb die Menschen auf die Barrikaden. Hierzulande wunderte man sich zeitgleich, weswegen es so viel Tumult wegen „ein paar“ Bäumen gab. Freilich stehen diese Bäume auch für sich als Bäume und auch dieser Park hat eine Geschichte, aber die Bäume repräsentieren mehr, sie wurden zum Symbol für die Grundrechte der Menschen, für die Demokratie in der Türkei, sie stehen für alle bisher ermordeten, verschollenen, misshandelten und zu Unrecht inhaftierten Menschen, darunter viele junge Menschen, auch viele Autoren, unzählige Dichter. / mehr

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