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Sarah Kirsch bezieht Position nicht nur im platt politischen Sinne, sondern in einem mimetischen, das heißt, sie verleiht dem, was sie bewahren will, Stimme und Form. Die Natur findet sich auf der einen Seite in ihrem Hervorbringen des Lebens und die menschliche Gesellschaft im Hervorbringen von Bedrohung und Vernichtung. Bezeichnend ihr Gedicht Bäume, auch für ihren widerständigen Humor:
Bäume
Früher sollen sie
Wälder gebildet haben und Vögel
Auch Libellen genannt kleine
Huhnähnliche Wesen, die zu
Singen vermochten, schauten herab.
Sarah Kirschs Weg durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man als paradigmatisch beschreiben. Als ein Leben in Absetzbewegung, und in gewisser Weise ging sie mir und meiner Generation, die etwa 30 Jahre später auf die Welt kam, voran. Wie Kirsch hatten auch wir uns aus unserer Gegenwart, die Vergangenheit sein sollte, herausarbeiten. Es war nicht so, dass sie uns die Irrtümer abnahm, die uns prägten, vielmehr war sie uns auch Vorbild im Irren, sahen sie und einige ihrer Kollegen sich eine Zeitlang doch damit beschäftigt, ein anderes besseres Deutschland aufzubauen. Das sollte sich als großer Irrtum herausstellen. Aber vor allem, dass man aus dem Irrtum lernen kann, konnten wir von ihr abschauen. Und dass es keinen Weg aus der Geschichte gibt. Wohl aber aus ihren manifesten Ergebnissen.
Die ersten Begegnungen mit Texten Kirschs hatte ich zur Zeit ihres Weggangs aus der DDR. Von diesem Aderlass der Kultur im Zuge der Biermann-Ausbürgerung sollte sich dieses merkwürdige Land nicht mehr erholen, schnitt es sich doch damit die intellektuelle Lebensader ab. Da ich in einer marxistisch-orthodoxen Familie aufwuchs, sah man die Ausgebürgerten und Weggegangenen in meinem unmittelbaren Umfeld skeptisch, wenn man sie nicht zu Verrätern erklärte. Aber wie dem so ist, entsprang für mich aus gerade dieser Stigmatisierung ein enormer Reiz und ich durchsuchte die Bücherregale meiner Verwandten nach Texten der verfemten, die es ja immer noch zur Genüge gab.
Gedichte von Sarah Kirsch fand ich unter anderem in einer Anthologie namens Zwiebelmarkt, die im Eulenspiegelverlag erschienen war, und die ich fortan wie meinen Augapfel hütete. Der technische Prozess hatte wahrscheinlich verhindert, dass aus dem Buch die Texte der Dissidenten entfernt worden waren. Und letztlich folgte später ja das ganze Land den Ausgebürgerten in den Westen, der damit ja als Westen zu existieren aufhörte.
Dadurch wurde aus Kirschs Abwesenheit eine dauernde Anwesenheit. Ich finde ihre Bände heute im Bücherregal, ihre Gedichte in den Schulbüchern meiner Töchter, ihren Namen auf Preisträgerlisten. Aber eine persönliche Begegnung mit ihr, die ich nie hatte, wird sich, zumindest im Diesseits wohl nicht mehr ergeben. Und das stimmt mich sehr traurig.
Noch ist Mai, doch möchte ich mit einem Gedicht aus Sarah Kirschs wohl bekanntester Sammlung, Erlkönigs Tochter, schließen:
Nördlicher Juni
Die Nächte haben ihre
Eigenschaften verloren:
Weiße Stufen die
Horizonte mit
Rostroten Tüchern.
Wer hier hinaufspringt
Kann glücklich werden.
Dreimal rufe ich dich aber
Du bist nicht
Auf Erden.
Denn die Gestorbenen haben die Angewohnheit, uns Hinterbliebenen Mut zuzusprechen.
/ Jan Kuhlbrodt, Aus dem Nachruf auf Sarah Kirsch, Zeit
Lieber Jan Kuhlbrodt,
„Und letztlich folgte später ja das ganze Land den Ausgebürgerten in den Westen, der damit ja als Westen zu existieren aufhörte.“
Ein schönes Bild. Vor allem literarisch. Für Sarah Kirsch sowieso. Dem nachzuspüren, eröffnet neue Wege literarisch zu sehen. Aber natürlich auch sonst…die Nächte … die Stufen… Eigentlich ist so eine Betrachtungsweise eine Selbstverständlichkeit. Womit wir wieder bei Sarah Kirsch (und anderen) wären, Sie spricht den Hinterbliebenen tatsächlich Mut zu.
Mit herzlichen Grüßen
artur nickel
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danke – sehr einfühlsam und ehrenwert (padon – blödes wort) verfasst
ihr erinnert
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