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Gottfried Benn hat unrecht mit seiner Frage, wem mehr als 5 oder 6 gute Gedichte gelingen. Und mit ihm alle, die aus welchen Gründen immer auf die Exclusivität der Spitzenleistung pochen. In Wirklichkeit ist es wie mit Blüten. Eine einzelne Blume hat manchmal mehrere, ein Baum Zigtausend. Viele Blüten machen eine Wiese, viele Bäume einen Wald, in manchen Gegenden blühn sie mehrmals im Jahr, und jedes Jahr kommen Xtilliarden hinzu, als ob die alten nicht gelanget hätten. Der Sinn ist nicht die kultische Spitzenleistung (auch nicht bei Benn), der Sinn ist vegetativ. Einmal lebt ich wie Götter, und kein Mehr bedarfs nicht, sondern ich werde es wieder und wieder tun, schreibend, lesend. Alle tuns allerorten, und manchmal kommt man auf eine Blumenwiese und einen Blütengrund.
Beim Stöbern in alten Zeitungen (auch Zeitungen kommen jeden Tag wieder, ihre Wiesen sind Kiosk und Lesesaal) stieß ich in politischem Kontext auf zwei Gedichte der Antipoden Brecht und Benn, die sich gut nebeneinander ausnehmen. Das eine wird vollständig zitiert, das andre nur angetippt. Dem politischen Kommentator gelingt hier eine überzeugende Szene aus dem wirklichen Leben von Gedichten. (Nebenbei, die guten Leute, die einem immer wieder ungefragt einreden, daß man sich entscheiden müsse, für das einzelne Spitzenprodukt, für Benn oder Brecht, verständlich oder unverständlich, Reim oder Prosa, neu oder alt, könn eim leid tun. Nichts habt ihr begriffen.)
Aber stellen wir uns nur einmal vor, der neue Kulturstaatsminister zitierte am 14. August, dem Todestag Brechts, im Parlament dieses Gedicht:
Einmal, wenn da Zeit sein wird /
Werden wir die Gedanken aller Denker aller Zeiten bedenken /
Alle Bilder aller Meister besehen /
Alle Spaßmacher belachen /
Alle Frauen hofieren /
Alle Männer belehren*Und er führe fort: Daher, meine Damen und Herren, müssen wir die gesellschaftliche Regelarbeitszeit von 40 auf 30 Stunden setzen, ohne vollen Lohnausgleich. Wir müssen, gleitend natürlich, Geld- durch Zeitwohlstand ersetzen: damit wir nicht 6 Millionen ausgrenzen, damit wir mehr Zeit für uns haben, damit wir, wie wir es einmal wollten, eine Kulturnation werden.
Stellen wir uns, für einen Moment nur, vor, ein Bildungsminister würde, so um den 7. Juli herum**, vor einer Versammlung von Industriellen beiläufig sagen: „,Ich habe übrigens Menschen getroffen, die mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren, am Küchenherde lernten, hochkamen, äußerlich schön und ladylike (…) Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden, woher das Sanfte und Gute kommt, weiß es auch heute nicht …‚ – aber, meine Damen und Herren, das seelische Massenelend der Jugendlichen werden wir nie lösen, wenn wir nicht eine massive Bildungsanstrengung machen – und deshalb werde ich auf eine zehnprozentige Erbschaftssteuer hinwirken und hoffe, in vielen von Ihnen Mitstreiter zu finden.“
/ Mathias Greffrath, taz 18.1. 2006
*) Ich habe übrigens nicht in alten Zeitungen gestöbert, sondern diese Zeile gegoogelt, weil ich sie grad brauchte und nicht abtippen wollte. Wie gut, daß es Verse gibt, die überall bereitliegen, im Kopf, im Regal, in der Virtualität.
**) Der 14. August 2006 war Brechts, der 7. Juli Benns 50. Todestag.
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