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Zugegeben, über Grass‘ Schwächen ist ihm mehr eingefallen:
Nicht alles ist dem Lyriker Grass gelungen. Manche Formulierungen sind zu geläufig: Da ist ein Staatsgeheimnis „abgeschottet“ (Ein Held unserer Tage), ein Sturm macht „Schlagzeilen“ (Herbstliche Ernte) oder jemand hält sich „bedeckt“ (Ängstlich besorgt). Als wollte er solche Geläufigkeiten wettmachen, reichert Grass seine Verse gern mit Manierismen an. Dazu gehört die Auslassung des Prädikats, die einen hohen Ton schaffen soll, aber nicht immer einen künstlerischen Sinn hat, wie in den elliptischen Versen von Atempause, dem gelungensten Gedicht über das Altern. Zumindest eigenwillig ist die Verwendung von Wörtern wie „käuflich“, „handlich“ und „hinterdrein“, die mehr Vergnügen am ausgefallenen als am treffenden Wort verraten.
Man kann Grass auch vorwerfen, dass ihm nicht zu allen seinen Themen viel eingefallen ist. Was er über das Warten an roten Ampeln (Aus Sicht des Beifahrers), die Sportschau (Und am Samstag die Sportschau) oder Talkshows (Über verfälschten Geschmack) verlauten lässt, ist nicht tiefer als das, was die meisten darüber sagen würden. Mehr als eine Beobachtung, etwa die über die „Gruppen Japaner“ in Tübingen (Auf Besuch in Tübingen), bleibt gewöhnlich. Mancher Einfall, wie der über Lesen und Riechen inDuftmarken, erfährt nicht die ihm gebührende Ausarbeitung.
Schwache Verse fallen allerdings bei der Beurteilung eines Gedichtbands am Ende nicht immer schwer ins Gewicht – solange es in ihm gute gibt, die sich einprägen, die man wiederlesen kann, ja muss.
Aber er besteht darauf, daß es auch Stärken hat:
Grass sind in diesem Buch nicht nur viele solcher Verse, sondern auch einige solcher Gedichte gelungen. Fast immer sind sie kurz.
/ Dieter Lamping, Literaturkritik.de
Günter Grass: Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
110 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783869305141
In der Süddeutschen Ztg vom 14.02. lese ich unter der Überschrift „Vor Tische las man’s anders“ (S.14) folgendes Grass-Zitat, gesprochen in vertrauter Übersetzer-Runde:
„Es ist das Schlimmste, was man einem Schriftsteller antun kann, wenn er keine Kritik mehr erfährt. Das ist ein erzener Sargdeckel.“
Man ersetze das „mehr“ durch ein Nichts – die Nichtachtung und Verdrängung ästhetischer Leistungen (vor allem der Namenlosen) in diesen Zeiten der Kommerzialisierung und Ökonomierung des Alltags macht traurig, wenn sogar die Nobelgelobten sich ungelesen wähnen.
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