81. Wut, Anteilnahme, Trauer

Meine erste Reaktion war Erschrecken, auch Wut. Es war eine Ohrfeige. Je genauer mir Stefan Sienerth und jetzt Ernest Wichner die Einzelheiten schilderten, umso mehr überkam mich das Gruseln. Die Akte zeigt wie ein finsteres Gemälde das Rumänien der fünfziger und sechziger Jahre. Die Gefängnisse waren voll. Der aus dem Lager heimgekehrte Pastior, Kistennagler und Bauarbeiter, konnte endlich in Bukarest studieren. Er wollte wieder in die Normalität, mit einem müden, sturen Eigensinn sein Leben selbst in die Hand nehmen. Aber es wurde ihm wieder konfisziert. Die Akte zeigt ihn von allen Seiten umzingelt. Auch mehrere Hochschullehrer bespitzeln ihn. Der Hauptspitzel steigert sich in die Denunziation hinein. Seine Berichte sind so gemein, dass es einen schaudert. Er war homosexuell, wie Pastior. Man fragt sich, ob er Rache nimmt aus persönlichen Gründen. Nach dem Überleben des Arbeitslagers wurde Pastior zum Staatsfeind, weil er für fünf Jahre Qual an die sieben Gedichte darüber schrieb, Gedichte, die er innerlich so nötig hatte. Aus diesen Lager-Gedichten hat man ihm den Strick gedreht: „antisowjetisch“, das reichte. Um sich vor der Verhaftung zu schützen, hat Pastior eine IM-Erklärung unterzeichnet. Aus dem Lager heimgekehrt wurde er statt frei vogelfrei. Meine zweite Reaktion auf den IM Pastior war Anteilnahme. Und je länger ich die Details hin und her drehe, umso mehr wird es Trauer. / Herta Müller, FAZ

Mehr: Horst Samson, Frankfurter Neue Presse

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..