93. Sappho getanzt

Weil die Lyrikerin und Kritikerin Anne Carson und der Tänzer-Choreograf Rashaun Mitchell jeder für sich Ausnahmekünstler sind, wäre ihre gelegentliche Zusammenarbeit, die im Jahr 2004 begann, auch dann bemerkenswert, wenn sie weniger reich wäre. Doch “Bracko” und “Nox”,  die beiden Hauptwerke ihrer Zusammenarbeit, sind Ereignisse, bei denen verschiedene Arten von Poesie mit außerordentlicher Eloquenz zusammentreffen. Wort, Tanz, Übersetzung, Kulturkommentar, Licht, Musik, sie alle fügen zurückhaltende, überlappende Zonen von Schönheit, Bedeutung und Drama hinzu. …

In „Bracko“ arbeiten Carson und Mitchell mit Bezügen zu unterschiedlichen toten Künstlern. Frau Carson ist hier die Übersetzerin der griechischen Dichterin Sappho; Herr Mitchell bleibt, obwohl er ein vollkommen originelles Mann-Frau-Tanzduett produziert, weitgehend in den von Merce Cunningham errichteten Grenzen (er arbeitete einige Jahre in ihrer Company).

In „Nox“ aber übersetzt Frau Carson ein einzelnes klassisches Gedicht als Grundlage für sehr persönliche und vielfältige Überlegungen. Und Herr Mitchell arbeitet hier in einem Genre, das Merce Cunningham im allgemeinen vermied, dem Mann-Mann-Duett, und er benutzt Bewegungen (Stürze, akrobatische Bodenübungen, dramatisch aufgeladene Verzahnungen), die sich von Cunninghams weitgefaßtem Lexikon entfernen.

Beschäftigung mit griechischer Literatur und Kultur gehörte immer zu den Hauptbestandteilen von Anne Carsons Werk. Der Titel „Bracko“ spielt auf die vielen eckigen Klammern an, die den fragmentarischen Text der Gedichte Sapphos durchziehen. Sein Bruchstückcharakter wird in der Performanz spürbar. (Wechselnde Stimmen sagen „Klammer auf“, „sündig“, „Klammer zu“). / Alastair Macaulay, New York Times 21.7.

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