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Sechs Jahre später demonstriert sie nun in den neun Zyklen von «Geistersehen», dass Naturdichtung immer nur Distanznahme sein kann und mitnichten das mystische Einssein mit den Dingen stiftet. «Was uns die Sicht verbarg», so formuliert in schöner Paradoxie das Gedicht «Imponderabilien», «war das Sichtbare; und wir / kontemplierten das Ding aus Dunst.» An den klassischen Topoi der Naturpoesie – Bäume, Wind, Wolken, Wasser – wird der Versuch unternommen, das Sichtbare in seiner Fragwürdigkeit zu erfassen. In anderen Kapiteln erkundet der poetische Blick Gemälde und Fotografien, die Bildprogramme der modernen Kunst. Oder er tastet sich an den «winzigen Reservaten romantischer Sehnsucht» entlang, am «Blühbemühen» von Bäumen und Blumen. Auch profane Erscheinungen in Industrielandschaften werden thematisiert, wie der Duisburger Hafen oder die Panoramaplattform eines Fernsehturms.
Aufregend und faszinierend werden diese Gedichte, wenn sie ihre Wahrnehmungsexerzitien und ihre Erkundungen von Naturstoffen in klassischen Formen reflektieren. Insbesondere dem Sonett hat Poschmann neue Energien zugeführt. Das lyrische Ich tritt darin zurück hinter der mächtigen Präsenz der Dinge. In den «Vanitasgedanken am Tag» träumt sich dieses Ich hinein in die Erscheinungen des Diversen: «wär ich ein Knusperhaus, ein weher Fiebertraum, / wär ich ein Kirmesplatz mit einem Autoskooter, / wär ich ein Krippenspiel, wär ich ein Ego-Shooter, / ein Dinosaurus-Park, ein grüner Plüschtier-Flaum; // Modellbau schneebesprüht. die Kunststofftannen steif / in Talkum, Bullrich-Salz, in Glasdiamantin. / mesmerisierter Wind. die Reifenspur darin. / Stadtlichter glühwurmgross. ein Rest Kometenschweif. // das Baukastenprinzip moderner Wohneinheiten / negierte mein Gesicht, entzog mir alle Seiten, / als sei ich nur noch Ort. kaum Ort, nicht Ort genug: // Berührungsenergie, Beschwörungsmaterial, / geheimes Futteral für halbe Rituale, / Identifikation mit Flüstern und Entzug.»
Marion Poschmann hat der zeitgenössischen Dichtung die Erfahrungsnaivität ausgetrieben. / Michael Braun, NZZ 25.5.
Marion Poschmann: Geistersehen. Gedichte. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2010. 126 S., Fr. 30.90.
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