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atemhole
innen der lungenbaum das
einmalgeäst mit dem luftsaft.
hochgekrempelte sorge.
obenwabe. auchholz. windig.
unten im elefantenfuß
boden zieht einmal ums andre
die wurzel am
kaumsolz.
hängeknitter. vorsteherlampe.
auchmilch.
wer also mehr weiß […]
vom klumpigen […] flügel
schlag an die decke […]
vom […] fallisch
ernährboden
: soll sich doch werfen
im sprung
ins luftparadies
deiner atemhole.
‚atemhole’ erschien bereits vor vier Jahren, und ich hab mir dies Gedicht jetzt wieder angeschaut, weil Michael Gratz mich einlud, etwas zu einem eigenen Text zu sagen, und weil mich gerade (wieder) sexuelle oder zumindest den Körper betreffende Themen interessieren. Dies Letztere liegt zum Teil an dem glücklichen Umstand, dass ein anderes Gedicht aus diesem Umkreis derzeit vom Berliner Komponisten Pèter Köszeghy vertont wird, zum andern an der Art dieser Dauerkonstellation, die eine ist, von der gesagt wird, sie suche sich den Autor (und nicht umgekehrt). Das Sexuelle erscheint hier verschlüsselt, das ist klar. Der Neologismusexzess wirkt (auf mich jetzt) erst mal abschreckend. Aber einfacher, was den Klartext betrifft, geht es kaum. Ich möchte hier jetzt in den Trichter zurückmurmeln, auf den Punkt zu als das Gedicht vor sechs Jahren entstand, was im Moment nichts anderes bedeutet als es abzulaufen wie einen Gemüsegarten oder zumindest eine Schneise durch Mischwald; und was quasi einer sich selbst erfüllenden bzw. zerstörenden Übersetzung gleichkommen könnte, nähme man es als Kommentar. Das Gedicht zeichnet den männlichen Körper nach und stellt ihn auf ganz alte überkommene Weise ins Oben-Unten-Schema, das die Interpretation gleich mitliefert. Oben ist die Luft, die ich atme; unten die anatomische Automatik, die mich durch alles hindurchlotst. Bis zur ‚auchmilch’ zeigt das Gedicht nur diesen Gegensatz. Also dadurch, dass es ein Gegensatz ist, stellt es sich ganz selbstverständlich ins Abendland, in sein (neu-)platonisch-christlich Verquastes. Man kann sich nicht aussuchen, in was für einem Kontext man steht. Frei nach Rimbaud: Was kann ich dafür, wenn ich als nassgewordene Pappschachtel in den Magazinen der Alexandrinischen Bibliothek aufwache? Diese Frage, was Tradition, also Schnipsel davon, bedeuten können, stellte ich mir, um mir vor Augen zu halten, ob und wie im Gedicht funktionieren könnte, was so naheliegt. (An jedem gesprochenen Wort hängt der Körper des Sprechers.) Ausschlaggebend für die semantischen Brösel dieses Gedichts ist, glaube ich, dass ich dem Kern des Problems, also dem Etwas, das sie zusammenhält, offensichtlich den Namen ‚kaumsolz’ gebe. Was ist das? Schöne evidente, prinzipielle Verschrobenheit, ihre Abkürzung, ihr Eigenname. Was so heißt, kann nur einmalig prinzipiell sein. Einsam und verdeckt hockt es im Herzen der Finsternis als lebenslanges Energiebündel. Zurück zur Atemluft: Der beinharte christliche Materialismus hat ja eine Entsprechung, das Oben, den Geist, das Pneuma – mal sehn, wie weit das reicht.
/ Marcus Roloff
‚atemhole’ aus: Gedächtnisformate. Gedichte, Gutleut Verlag, Frankfurt am Main/Weimar 2006
In der Reihe „Selbstanzeige“ bisher:
2009 Mrz 130. Aus der Lesbarkeit befreit (André Rudolph)
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