122. Lyrikstationen 2009 (9)

Fortsetzungsessay von Theo Breuer

9

das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken –
In der Zwischenzeit, mein lieber Sohn,

Geht der Gesang zu Ende

In A. J. Weigonis Novelle Vignetten (poetenladen.de/theo-breuer-weigoni.htm) lese ich:

In der Antike kamen am mittelländischen Meer Menschen aus verschiedenen Weltgegenden zu­sammen, sie praktizierten eine Atmosphäre des freien geistigen Austauschs. Die Bibliotheca Ale­xandrina ist daher nicht nur ein Reich des Geistes, sondern auch ein Geisterreich.

Brennglas. Zur Subversion wird ihnen die Mattigkeit. Die Teilhabe an dieser Welt besteht für Na­taly und Max im Lustwandeln. Die rhythmische Berührung der gezeichneten Erde mit den Füßen ist ihre rituelle Weltbeschwörung. Im Unterwegs-Sein bringen sie ihre Befindlichkeiten behutsam zum Sprechen, indem sie ihre Wirklichkeit im Zusammenspiel mit anderen Realitäten untersu­chen; sie deuten ihre Innenwelt auf der Suche nach dem wahren Sinn und Inhalt solange aus, bis sie am Ende der Interpretation neben sich steht wie ein zweites Phänomen er Sache selbst. So befreien sich Nataly und Max Schritt für Schritt von einem unseligen Verfahren: das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken.

Die abgewetzten Begriffe sind nicht aus der Welt zu schaffen. Man verwendet sie vor allem auch dann, wenn es schnell gehen soll mit einer Antwort, einer Festlegung. Ich bin für die Abschaffung der Begriffe, versuche sie möglichst zu vermeiden. Statt­des­sen – du wort mit ach und och (Helmut Krausser) – plädiere ich für: Wörter   Wörter   Wörter mit (und ohne) Bodenhaftung wie Ampel, Bratkartoffeln, Café, Di­mitroffstraße, Engel, Fußspitze, Glühlampenwerk, Hinterzimmer, Inhaber, Janis Jop­lin, Keilriemen, Leberwurst, Messer, Nadel, Ofen, Pfau, Rollstuhl, Standfrau, Trach­tenmusik, Uhr, Vorgänger, Watte, Expresso, You-Tube, Zitronenkuchen – die ich in Florian Günthers herrlich lebendig-schnoddrigem Mir kann keiner lese.

Ich bin grund­sätzlich selten verstimmt, aber profilarme Begriffe wie Liebeslyrik, Na­turlyrik oder politische Ly­rik ma­chen mich zornig. Da wirkt Tom Schulz im Vorwort des saustar­ken Sammelbands alles außer Tiernahrung schon wieder besänftigend, wenn er von viel­schichtig politisch spricht, und in der Tat bleibt in den ausgewählten Gedichten die (immer wieder fein verschlüsselte) Botschaft sekundär, spielen Wort, Klang und Form die erste Geige. Lyrik ist Lyrik ist Lyrik. Im Prismenglas des Gedichts geben sich alle wesentlichen Aspekte des Daseins mit ihrem gleichsam unendlichen Farbenreichtum ein immerwährendes Stelldichein. Wäre das Gedicht An die Nach­ge­bore­nen kein gelungenes, originelles Gedicht, die politische Aussage wäre bes­ser in ei­ner Tages­zeitung aufgehoben. Im Brechtschen Sound bleibt es allgegenwär­tig, ist stets abrufbar: Was sind das für Zei­ten, wo / Ein Ge­spräch über Bäume fast ein Verbre­chen ist / Weil es ein Schwei­gen über so viele Untaten einschließt!

Die wunderbar klingenden, vielschichtigen Gedichte Wil­helm Lehmanns (Lehmann war einer der wichtigsten Exponenten der Lyrischen Moderne. Er gehört als Theore­tiker in die Linie Poe, Valéry und Benn, Rudolf Hartung) werden gern unter dem Beg­riff Naturlyrik subsumiert und das Nachdenken über Lehmanns Lyrik unter einem ein­zigen Begriff erstickt. Lehmann? Ach ja, der Naturlyriker, und weiter geht’s im Text. Wilhelm Lehmann (Schwarzer Blitz, Holunderbeere) schrieb brillante Ge­dichte; wie einen Schatz hüte ich den in goldgelbes Leinen eingebundenen Sam­mel­band Meine Gedichtbücher von 1957, der mit diesem Gedicht einsetzt:

An meinen ältesten Sohn

Die Winterlinde, die Sommerlinde
Blühen getrennt –
In der Zwischenzeit, mein lieber Sohn,
Geht der Gesang zu End.

Die Schwalbenwurz zieht den Kalk aus dem Hügel
Mit weißen Zehn,
Ich kann es unter der Erde
Im Dunkeln sehn.

Ein Regen fleckt die grauen Steine –
Der letzte Ton
Fehlt dem Goldammermännchen zum Liede.
Sing du ihn, Sohn.

Seit einiger Zeit wird erfreulicherweise erneut versucht, das Werk Wilhelm Leh­manns, der von 1882 bis 1968 lebte, zu neuem Dasein zu erwecken. Gesammelte Werke in acht Bänden erscheinen bei Klett-Cotta. Seit 2004 gibt es in Kiel die Wil­helm-Leh­mann-Gesellschaft, die 2009 den nach Lehmann benannten Literaturpreis ins Leben rief. Erster Preisträger ist Jan Wag­ner.

An all das dachte ich, als ich am 13. Oktober 2009 zusammen mit Shafiq Naz, dem Herausgeber des deutschen Lyrikkalenders, Hans Bender besuchte und die­ser mir unvermittelt einen großen Ordner in die Hand drückte, der durch einen glück­lichen Zufall nicht beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs mit den vielen anderen Ordnern, die das 27.000 Briefe, Karten, Manuskripte und Notizen umfassende Hans-Bender-Ar­chiv beherbergen, in die Tiefe gerissen wurde – womit auch der Verfasser von Wie es kommen wird nicht gerechnet hatte.

Bebend blätterte ich und stieß wie vom Blitz getroffen auf handgeschriebene Ge­dichte und Briefe von Wilhelm Lehmann. Ich verspürte sekundenlang eine starke ganzkör­perliche vegetative Reaktion, begriff ich doch in jenem Augenblick erst, und das auf wahrhaft sinnliche Weise, was am 3. März 2009 in der Kölner Severinstraße gesche­hen war. Als ich es aus den Nachrichten erfuhr, galten meine Gedanken den beiden tödlich verunglückten jungen Menschen, das Archiv interessierte mich zu­nächst über­haupt nicht. Erst in den Wochen danach machte ich mir klar, was eigent­lich passiert war, verfolgte regelmäßig die Bergungsarbeiten und hoffe, daß sich im Laufe der nächsten Jahre zeigen wird, daß der überwiegende Teil der unschätzbaren Sammlung gerettet wurde und nur das Wenigste unwiederbringlich verloren ist. Hier saß ich in der Taubengasse, ganz in der Nähe der Severinstraße, hielt das liebevoll arrangierte Dokument in Händen und konnte es einfach nicht fassen.

Respekt vor der Schöpfung, vor dem Daseienden, Genauigkeit des Sehens, die Empfindung, daß alles nur einmal vorhanden ist und nur in verwandelter Gestalt immer herrscht: das wäre gewis­sermaßen die Inhaltsangabe meiner Gedichte.

Das gelungene Gedicht versetzt Menschen wie Dinge aus einem ungenauen in einen genauen Zustand. Es betrügt ihn und sie gerade nicht um das Dasein, sondern verleiht es ihnen.

Wilhelm Lehmann

  • Hans Bender, Wie es kommen wird
  • Florian Günther, Mir kann keiner
  • Helmut Krausser, Auf weißen Wüsten
  • Tom Schulz (Hg.), alles außer Tiernahrung

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  1. „Vignetten“ für den Hörspiel-Award nominiert

    Seit 10 Jahren wird der Hörspiel-Award für unabhängige Hörspielproduktionen verliehen. Die »Vignetten« haben als „Bestes Radiohörspiel“ gute Außenseiterchancen.

    Seit 1981 ist Tom Täger an Produktionen mit Tom G. Liwa, Die Regierung, His Girl Friday, Die Sterne, MissFits, Comalounge, Combos aus der Weltmusik, Life-Mixen für Musicals an der Folkwangschule Essen, u.a. beteiligt. Mit großer Kompetenz und menschlicher Wärme betreut Tom Täger “Behinderte und Bekloppte” sowie exzentrische Künstlerpersönlichkeiten.

    1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte „Seine größten Erfolge“. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr.

    1995 begann die Zusammenarbeit mit A.J. Weigoni, zuletzt realisierten sie die Hörfolge »Vignetten«, die nun für den Hörspiel-Award als Bestes Radiohörspiel 2009 nominiert worden ist. Aus einem musikalischen Einfall heraus entwickelt Tom Täger ein 24teiliges Stück. Der Hörspielkomponist verarbeitet das Thema dabei unterschiedlich, in Sequenzen, Transpositionen und Diminutionen kommen seine Inventionen zu den Vignetten daher. Kontraste sind für Tom Täger selbstverständlich, die schwelgerische Melancholie gedeiht direkt neben krassen Dissonanzen, und die Intensität des Schrillen verstärkt diejenige des Stillen. Seine Komposition lebt von Polymetriken und Polyphonien. Die Vertonung Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Oft gibt es das Missverständnis, Energie gleich Lautstärke. Intensität steckt auch in extrem ruhiger und gleichförmig fließender Energie, quasi im Nichts. In der Hörspielmusik dieses Soundtüftlers gibt es extrem leise Stellen. Und trotzdem ist da unentwegt ein Energiefluss spürbar, es brodelt etwas.

    A.J. Weigoni spürt der Sprache in den »Vignetten« vor allem als akustischem Phänomen nach. Dieser Sprechsteller gibt der Sprache einen Körper, verleiht ihr Gestalt und Kontur, er gehört damit zu den Poeten, die nicht nur Text, sondern Klang produzieren; seine Stimmführung ist nahezu Musik. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Weigoni verfügt über eine schattierungsfähige Stimme, die viele Zwischentöne kennt. Auf eine sensible Art spröde. Sanft und energisch. Warm und weich. Rauh und klar. Bei Weigoni sind Selbstironie und aufrichtiger Affekt eben kein Widerspruch, philosophischer Ernst findet sich mit abgründigem Witz verpaart, und Raffinesse und pophistorische Reflektiertheit paaren sich mit der Komplexität eines Gedichts. Bei der Umsetzung der »Vignetten« möchte man jedem einzelnen Wort hinterher lauschen. Hier entsteht etwas, das am ehesten als eine Art assoziativer Klangraum bezeichnet werden könnte, ein schwer zu fassendes Phänomen, das eng mit der offensten aller Künste, der Musik, verwandt ist.

    Die endgültige Wahl zum Hörspiel-Award beginnt am 15.01.2010. Sie wird sowohl von einer Jury vorgenommen, als auch vom Publikum bestimmt. Mehr Informationen findet sich unter:

    http://www.hoerspiele.de/award2009/vote_publikum_id55578.asp

    bedanke mich, Matthias Hagedorn

    Meine Wahlempfehlung – Namedropper’s Delight:

    Bestes Radiohörspiel: Vignetten

    Bestes Hörspiellabel 2009: Hoerspielprojekt.de

    Beste Fan-Hörspielseite 2009: http://www.hoerspieltalk.de

    Bestes Gratis Hörspiel 2009: Rick Future

    Beste(r) Erzähler/in 2009: Detlef Tams (Death and Salvation)

    Bester Sprecher in einer Hauptrolle 2009: Sven Matthias (als Rick Future)

    Beste Sprecherin in einer Hauptrolle 2009: Marie-Christin Natusch (als Pyliana in Narfland)

    Beste Nebenrolle (männlich) 2009: Dirk Hardegen (Bermuda 1963)

    Beste Nebenrolle (weiblich) 2009: Michelle Martin (Rick Future)

    Beste Regie 2009: Sven Matthias (u.a. Rick Future)

    Bestes Hörspiel Downloadportal: http://www.hoerspielprojekt.de

    Beste offizielle Homepage: http://www.rick-future.de

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