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Aber die Berühmte ist nicht nur unbekannt, weil die Wellen der Geschichte über sie hinweggegangen sind; oder weil sie Jüdin war, die Hitler gleich zweimal verjagte, als verrückte Künstlerin und als Feindin des Volkes. Else Lasker-Schüler hat gelebt wie niemand vor und niemand nach ihr. Sie hat sich nicht angepasst, hat keinen der Kompromisse geschlossen, aus denen unser Leben besteht, hat nie und nirgends auf ihr Ich verzichtet, auf ihre ganz eigene Sicht der Welt. Das hat ihr Leben unglücklich gemacht, und am Ende ihres schönen Buches über sie lässt Kerstin Decker es den Maler Miron Sima sagen, der die alte, im Jerusalem des Zweiten Weltkriegs gestrandete Frau mehrmals gemalt hat und als Künstler nachempfinden konnte, was er sah: „Man kümmerte sich um sie, aber sie gehörte zu niemand. Und so war sie mitten unter Leuten von Einsamkeit umhüllt, als würde sie ihre Zelle mit sich herumtragen, wie eine Schnecke ihr Schneckenhaus.“ …
„Ich war aus der Stadt geflohen“, schreibt sie darüber, „und sank erschöpft vor einem Felsen nieder und rastete einen Tropfen Leben lang, der war tiefer als tausend Jahre. Und eine Stimme riss sich vom Gipfel des Felsens los und rief: ‚Was geizt du mit Dir!‘ Und ich schlug mein Auge empor und blühte auf…“ Ihre Schönheit gewinnen diese Worte nicht aus einem zum Messias stilisierten Peter Hille, sondern aus der Erlösungssehnsucht dieser von keinem Bürgertum zu bändigenden Frau. „Und immer, immer noch der Widerhall / In mir, / Wenn schauerlich gen Ost / Das morsche Felsgebein, / Mein Volk, / Zu Gott schreit.“ So schreibt sie in ihrem großen Gedicht über das jüdische Volk, zu dem sie gehört, und dieses Judentum auf dem Grunde ihrer Sehnsucht bleibt Kerstin Decker fremd. Es geht über die Grenzen ihres Buches hinaus. So ist Else Lasker-Schüler – sie lässt sich von niemandem einengen, auch von ihren Biografen nicht. / Jakob Hessing, Die Welt 12.12.
Kerstin Decker: Mein Herz – Niemandem. Das Leben der Else Lasker-Schüler. Propyläen, Berlin. 475 S., 22,90 Euro.
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