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Immer nur das Herz, in der Lyrik, klagt ein Anonymus im „Kreis-Anzeiger“ (die Homepage bietet zur Auswahl: Wetteraukreis, Vogelsbergkreis).
Doch wie ist es um die anderen Organe bestellt? Wer schrieb jemals eine Hymne auf Leber, Nieren, Nase und Ohren? Wann ist jemals etwas für Magen und Darm gedichtet worden? Und die Geschlechtsorgane, deren Gebrauch uns so große Freude bereiten, wo findet sich ihre entsprechende Bedeutung in der Lyrik? Die Augen, die uns diese Welt in ihrer ganzen Farbpracht erleben lassen, müssen sich ständig die Schmähung des französischen Dichters Antoine de Saint-Exupéry gefallen lassen, der behauptete: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Womit wir wieder beim Herzen wären.
Der Frau oder dem Mann kann geholfen werden. Freilich dominiert die Herzschmerzlyrik unseren Kanon. Beschweren Sie sich bei Anthologisten, Lehrplanmachern und anderen Kanonisten. Denn es gibt alles – man muß es nur suchen. Selbst an vielleicht unvermuteter Stelle. Bei Paul Celan treffen sich zwei der von Anonymus/Anonyma vermißten Teile:
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis…
(Corona)
Es gibt Walt Whitman, der den perfekten elektrischen Körper von Männern und Frauen besingt. Alle dem Auge sichtbaren, der Hand tastbaren Körperteile besingt, und am Schluß sagt:
O ich sage, das sind nicht die Teile des Körpers und Gedichte des Körpers allein, sondern der Seele,
o ich sage jetzt, diese sind die Seele.
Es gibt den Chilenen Pablo Neruda, der in seinen „Elementaren Oden“ die Seeaalsuppe ebenso besingt wie: blaue Blume, Artischocke, Walt Whitman, Atom oder die nackte Schöne. Man kann bei den Tschechen nachlesen, zum Beispiel František Halas, der schreibt ein Herbstgedicht, das alles „Herbstliche“ an „ihr“ aufzählt: Ihr Kleid war herbstlich, und so weiter über Haar, Auge, Mund, Brust, Träumen, Nabel, Schoß, Lächeln… Und eine Hymne auf die alten Frauen, die nacheinander Augen, Hände, Haar, Schöße der alten Frauen besingt, jeweils in mehreren bildreichen Strophen, eine Hymne!
Man kann bei der amerikanischen Beats suchen, oder bei den alten Franzosen. Die erfanden im 16. Jahrhundert eine eigene Gedichtgattung: Blasons, Gedichte, die summarisch und detailliert Eigenschaften bestimmter Gegenstände aufzählen. Alle Art Gegenstände, körperliche wie geistige, aufs Detail kommt es an. Nicht zuletzt der menschliche Körper. Lothar Klünner hat 1981 eine Sammlung von „Blasons auf den weiblichen Körper“ übersetzt und herausgegeben in dem wunderbaren Henssel Verlag (den es wohl auch nicht mehr gibt). Dort finden sich Gedichte von zehn Dichtern auf (Auswahl): Stirn, Ohr, Braue, Nase, Fingernagel, Brüstchen, Möschen, Popo… in jeweils langen detailreichen Gedichten.
(Zusatztip: Googlen Sie mal „Oden an die Hoden“)
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und nicht nur unter dem aspekt von ISBN 978-3-596-90184-5 (Des Weibes Leib ist ein Gedicht.
Erotische Gedichte aus fünf Jahrhunderten)
unter den anderen unzähligen paradigmatisch wohl christian morgensterns „das knie“
Das Knie
Ein Knie geht einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts!
Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt!
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Im Kriege ward einmal ein Mann
erschossen um und um.
Das Knie allein blieb unverletzt –
als wär’s ein Heiligtum.
Seitdem geht’s einsam durch die Welt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.
Es ist kein Baum, es ist kein Zelt.
Es ist ein Knie, sonst nichts.
und das nasensonett von francisco de quevedo:
A un hombre de gran nariz
Érase un hombre a una nariz pegado,
érase una nariz superlativa,
érase una alquitara medio viva ,
érase un peje espada muy barbado.
Era un reloj de sol mal encarado,
érase un elefante boca arriba,
érase una nariz sayón y escriba ,
era Ovidio Nasón más narizado.
Érase el espolón de una galera,
érase una pirámide de Egipto,
las doce Tribus de narices era.
Érase un naricísimo infinito,
frisón archinariz, caratulera
sabañón garrafal, morado y frito.
(das ist [oder war] in spanien schullektüre, quevedos spottgedicht auf góngora. die erste zeile lautet auf deutsch in etwa „es war einmal ein mann, der an eine nase geheftet war“)
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Heinrich Heine
Das Hohelied
Des Weibes Leib ist ein Gedicht,
Das Gott der Herr geschrieben
Ins große Stammbuch der Natur,
Als ihn der Geist getrieben.
Ja, günstig war die Stunde ihm,
Der Gott war hochbegeistert;
Er hat den spröden, rebellischen Stoff
Ganz künstlerisch bemeistert.
Fürwahr, der Leib des Weibes ist
Das Hohelied der Lieder;
Gar wunderbare Strophen sind
Die schlanken, weißen Glieder.
O welche göttliche Idee
Ist dieser Hals, der blanke,
Worauf sich wiegt der kleine Kopf,
Der lockige Hauptgedanke!
Der Brüstchen Rosenknospen sind
Epigrammatisch gefeilet;
Unsäglich entzückend ist die Zäsur,
Die streng den Busen teilet.
Den plastischen Schöpfer offenbart
Der Hüften Parallele;
Der Zwischensatz mit dem Feigenblatt
Ist auch eine schöne Stelle.
Das ist kein abstraktes Begriffspoem!
Das Lied hat Fleisch und Rippen,
Hat Hand und Fuß; es lacht und küßt
Mit schöngereimten Lippen.
Hier atmet wahre Poesie!
Anmut in jeder Wendung!
Und auf der Stirne trägt das Lied
Den Stempel der Vollendung.
Lobsingen will ich dir, o Herr,
Und dich im Staub anbeten!
Wir sind nur Stümper gegen dich,
Den himmlischen Poeten.
Versenken will ich mich, o Herr,
In deines Liedes Prächten;
Ich widme seinem Studium
Den Tag mitsamt den Nächten.
Ja, Tag und Nacht studier ich dran,
Will keine Zeit verlieren;
Die Beine werden mir so dünn –
Das kommt vom vielen Studieren.
(und unzählige weitere Beispiele auch unter ISBN 978-3-596-90184-5)
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