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Mal sind es winzige Verschiebungen der Bedeutungsebene („im Friaul, auf Siena gebettet, die Rosen“), mal rasche Überblendungen oder sinnschöpferisch eingesetzte Zeilenbrüche, die dieser Lyrik ihren eigenen unverwechselbaren Ton geben: „der Einsame ist ein Zweig / er trägt die Dörrfrucht des Winters / die Bäume mit der Totenhand // sie greifen hinter das Leben / Herr, schließ den Weltraum / Kühlschrank zu, es schweben // die Datteln…“ (Psalm)
Selten wurde ein Psalm ja so geräumig für weltliche und außerweltliche Verschränkungen gemacht wie hier bei Tom Schulz, der lyrische Formen nicht bloß neu ausfüllt, sondern sie seinem Ton nachgerade anverwandelt (und übrigens ein Liebhaber des Binnenreims zu sein scheint).
Man staune auch, wie rotzig-verliebt der Dichter in seiner „Stendaler Elegie“ daherkommt, darin es heißt: „…es gibt kein Jahr 2046, damit mußt du dich / abfinden, Kleines, sieh meine hässlichen Zehen an / die wollen nach Süden wie ein paar zerschossene Pilger // bitte sende mir eingerissene Fingernägel, sende mir / deine schwärzeste Stunde, ich will um sie anhalten / damit die Tränen nicht zweiter Klasse fahren müssen…“
Das moderne Gedicht hat er einmal mit einem leerstehenden Parkhaus, „in dem die Fiktionen auf mehreren Ebenen ein und ausgehen“ verglichen.
Die Dichtung des Tom Schulz steckt voller solcher teils irrwitziger Fiktionen.
Ein leichtfüssiger Surrealist ist dieser Dichter, ausgestattet mit einem reichen Sprach- und Bildfindungsfuror, der seine Kapitalismuskritik als poetische Funk- und Morsezeichen in die von konsumistischen Heilsversprechen traumatisierte (westliche) Welt schickt. / Volker Sielaff, Dresdner Neueste Nachrichten 16.11.
Tom Schulz: Kanon vor dem Verschwinden. Berlin Verlag, 2009. 96 S., 16,90 Euro.
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