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Auf der einen Seite ist die Lyrikszene so lebendig wie lange nicht, auf der anderen Seite scheint Enzensbergers Diktum, wonach die Zahl der Leser eines neuen Gedichtbands bei „plusminus 1354“ liegt, immer noch zu stimmen. Reine Rezeptionsblockaden – oder sind die Verlage nicht mutig genug?
Michael Braun: Oh je, schon das Wort „Rezeptionsblockaden“ – da bekomme ich gleich Schweißausbrüche! Ich selbst habe für Blockaden gar keine Zeit, weil ich mich ständig mit Lyrik beschäftigen muss. Aber Spaß beiseite, Sie haben recht: Es gibt ein Missverhältnis zwischen einer ansteigenden Zahl von so genannten „Events“, die um die Lyrik kreisen, und dem dürren Interesse an Lyrik-Bänden, die in immer schmalerer Zahl verkauft werden. 1354 – ist eigentlich eine gewaltige Übertreibung: Wenn ein vielfach preisgekrönter Band wie Ulf Stolterfohts „Holzrauch über Heslach“ (Engeler) 1500 bis 2000 Exemplare erreicht, ist das meist schon das Höchste der Gefühle. 80 bis 90 Prozent der Lyrikbände liegen weit darunter.
Aber woran liegt das?
Braun: Man hört Dichtern gern zu, diesen kuriosen Menschen, die ihr Leben mit dem Herstellen von Texten verbringen. Man geht zwei Stunden hin, trinkt zwei Gläser Wein, geht wieder nach Hause. Ein schöner Abend – aber das war’s dann auch.
Und der „Lyrikboom“, von dem in den letzten Jahren immer wieder zu lesen war? Dichtung oder Wahrheit?
Braun: Ich glaube, dass im Moment sogar ein kleiner Zusammenbruch der lyrischen Infrastruktur zu registrieren ist. Urs Engeler stellt sein Programm ein, Kookbooks ist gefährdet, und das „Jahrbuch der Lyrik“ hängt in der Luft.
Wären dann Anthologien so etwas wie der Königsweg?
Braun: Anthologien sind etwas für Jäger und Sammler – aber sie ersetzen die fehlenden Einzelbände nicht.
Sie sind aber ein probater Weg, Leser an Lyrik heranzuführen …
Braun: Ja, das ist die Aufgabe von Anthologien – einen Überblick herzustellen, ein Schlaglicht auf die Bewegungen in der Gattung zu werfen. Das war ja vor 20, 30 Jahren genau so. Damals waren Bücher wie Hans Benders „In diesem Lande leben wir“ (Hanser 1978) oder Jürgen Theobaldys „Und ich bewege mich doch“ (C. H. Beck 1977) wichtig – da konnte man einen Überblick bekommen, was diese neuen Subjektivisten schreiben. Inzwischen hat sich die ökonomische Situation der Verlage verschärft…
(…)
Welche Lyrik-Anthologie würden Sie auf die berühmte einsame Insel mitnehmen?
Braun: Als Konzept hat mir immer Walter Höllerers „Transit“ gefallen, 1956 bei Suhrkamp erschienen. Über Höllerers Texte zur Poesie bin ich ja quasi dazu gekommen, mich mit Lyrik zu beschäftigen. „Transit“ ist eine Anthologie, die Gedichte mit Randnotizen versieht. Schon mal interessant: Der Herausgeber spricht mit den Gedichten. Und das zweite: Die Autorennamen stehen nicht über dem Gedicht, die finden sich hinten im Verzeichnis. Man wird also zunächst nur mit den Texten konfrontiert und kann dann nachlesen: Wer war das jetzt eigentlich? Lyrik so zu enthierarchisieren, das fand ich ein kühnes Unternehmen. Und schließlich hat der Band einen wunderbaren Untertitel: „Lyrikbuch der Jahrhundertmitte“.
Klingt spannend. Sollte man Höllerers Ansatz nicht mal wieder an der jüngeren Gegenwartsdichtung testen?
Braun (lacht): Das wäre sicher reizvoll. Aber ich fürchte, in der gegenwärtigen Situation sind sämtliche Verlegerohren, was so ein Projekt betrifft, fest geschlossen.
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