46. Ins Ohr verkrochen

Kempowski hat diese Zeit immer als in jeder Hinsicht prägend beschrieben, ohne die Haft, so wurde er nicht müde zu betonen, wäre er nicht zum Schriftsteller geworden. In seinem Buch «Im Block» hat er die schmerzhaften Erfahrungen sprachlich verarbeitet. Es liegt nahe, die Gedichte in «Langmut» vor diesem Hintergrund zu lesen. Immer wieder tauchen Bilder von Dunkelheit und Kälte in den Zeilen auf, es ist von «Gittern» und «Mauern» die Rede, und die Bewegungen enden oft im Nichts. Das Schöne an den Texten aber ist, dass sie diese Lesart in keiner Weise verlangen. Vielmehr bauen sie eine Stimmung des Bedrohlichen und zugleich Absurden auf, die eher an Sätze von Kafka oder Beckett erinnern, als dass sie sich einer konkreten, historisch verortbaren Szenerie zuordnen liessen. Kempowski macht das sprachlich geschickt, indem er ein ums andere Mal ein nicht näher bestimmtes «es» oder «man» in die Verse holt, das sie offen hält. Zugleich konzentrieren sich die Gedichte nicht nur auf das Sehen, sondern auch auf das Hören. Das Lauschen wird beschworen, es schabt und kratzt fortwährend, und bisweilen scheint sich das lyrische Ich regelrecht ins Ohr verkrochen zu haben: «Man gab dir ein Tuch. / Fäden hingen her und hin. / Es pfiff von den Dächern / und summte durchs Haus.» / Nico Bleutge, NZZ 18.7.

Walter Kempowski: Langmut. Gedichte. Knaus-Verlag, München 2009. 84 S., Fr. 28.90.

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