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Veröffentlicht am 1. Oktober 2007 von lyrikzeitung
Die Mauer fiel gerade noch rechtzeitig, um eine Westberliner Institution kennenzulernen: Die Heinebuchhandlung im Bahnhof Zoo. Ein paar Jahre später schlugen die (vorwiegend) Herren der nunmehr Deutschen Bahn zu und begradigten die Front. Statt fröhlich-anarchischer Vielfalt nun die überallgleiche Einheitsbuchhandlung. Die Einheitsparty ist tot, es lebe die Einheit. (Wieder ein paar Jahre später purzelte der ganze Bahnhof hinterdrein, abgeklemmt, ausgetreten). Soweit so erwartbar schlecht.
Jetzt sammelt die immer noch deutsche Bahn wieder ein paar Punkte. Bei einem kurzen Aufenthalt in der Unterwelt des Berliner Hauptbahnhofs (dessen Name dem oben beschriebenen Gesetz folgt, wie bei Honecker so auf bundesdeutscher Erden) kam ich vor einem jener Automaten zum Stehen, aus denen der Reisende Süßigkeiten oder Coladosen ziehen kann. Dazwischen aber, auf Nummer 36, ein Buch. Ein kleines gelbes Heft der SuKuLTuR-Reihe: Frank Fischer: Die Zerstörung der Leipziger Stadtbibliothek im Jahr 2003. Ich kickte eine Euromünze hinein, und das Buch fiel mir zu. Dahinter stand ein Titel von Stan Lafleur oder stan lafleur, die nächste, Jeffrey McDaniel, die dritte, Barbara Wrede, die vierte und Mascha Kurtz, die fünfte Münze. Eine Art Lotterie, bei der es eins von etwa 60 Titeln der Reihe zu gewinnen gibt. Sollte ein Sammler alle Titel haben wollen, kann er dran arm werden, denn sie sind wahllos sortiert. Ich hätte gerne einen Gedichtband von HEL gewonnen, drei davon sind im Angebot, aber meine Münzen waren alle und zudem lag der Band von Fischer wieder vorn. So stieg ich in den Zug nach Senftenberg, wo Sewan Latchinian Goethes Faust inszeniert hat – er nennt es „Fäuste“, und zu recht, denn er spielt beide Teile an einem Abend, mehrere Fäuste und Mephistos und dazu an fünf verschiedenen Spielorten. Sehens- und hörenswert, wer kann: hin, es gibt nur noch 5 Termine bis Anfang November!
So ein Heft ist gerade richtig für eine kürzere Zugfahrt. 20-24 Seiten und soweit ichs bis jetzt erforschen konnte durchweg lesbar. Debütanten stehen neben jungen und älteren bereits ausgewiesenen Autoren (ich nenne wahllos noch: Crauss, Kuhligk, Rinck, Dath und Kilic). Die meisten Prosa, aber ein paar schöne Gedichtbände sind darunter. Der New Yorker Jeffrey McDaniel, übersetzt von Ron Winkler, ist ein Must Have! Auch eine Fundgrube für Wort- und Metaphernsammler, hier ein paar Beispiele, die ich zwischen Berlin und Falkenberg las: Atheistennächte, Nadelaustauschprogramme, Secondhandshops für Gefühlskostüme; du bist eine schmutzige kleine Windschutzscheibe; weil Sex mit dir wie Großbritannien ist: kühl, schlaff und ein bißchen verklemmt; Erdstillstand; der Mond so rund wie der Mund eines Feuerwehrmanns, der aus einem brennenden Gebäude rennt; frische Agonie für nur drei Dollar das Bund; Lollipop ihrer Aufmerksamkeit; Sargbaum; Ich mag Mädchen mit großen Problemen. Ich kann ohne dich nicht leben Problemen. Oh mein Gott, sie hat den Verstand verloren Problemen. Verdammt sie zündet das Haus an Problemen. Muß man die Bahn nicht loben, die sowas anbietet?**)
Vgl. L&Poe 2004 Feb #6. Hel-Automat
*) Pomes pennyeach (Pöme fennig’nstück) heißt ein Gedichtband von James Joyce
**) Nachtrag 2011: die Automaten im Hauptbahnhof sind seit vielen Jahren wieder auf Einheitskeks und -cola umgestellt. Paßt auch nicht zu dieser Bahn.
Kategorie: Deutsch, Deutschland, Englisch, USASchlagworte: Barbara Wrede, Berlin, Björn Kuhligk, Crauss, Dietmar Dath, Frank Fischer, HEL ToussainT, Ilse Kilic, James Joyce, Jeffrey McDaniel, Johann Wolfgang Goethe, Mascha Kurtz, Monika Rinck, Ron Winkler, Senftenberg, stan lafleur, SuKuLTuR
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